„Böse Mädchen kommen in die Chefetage“, schreibt ein Autor. Wer “nett“ sagt, meint oft “blöd“. Ich habe echte Hilfe nachgeschlagen.

„Erzähl! Wie war dein Date am Freitag?“, frage ich meine Freundin am Telefon. Sie antwortet knapp: „Ganz nett. Er ist wirklich ein feiner Kerl.“ – „Und trefft ihr euch bald wieder?“ – „Nein, natürlich nicht“, sagt sie mit einem verständnislosen Unterton. „Der ist mir viel zu langweilig.“ Klar: Jeder weiß, der Ausdruck „nett“ hat schon längst seine ursprüngliche Bedeutung verloren.

Wer nett sagt, meint eher blöd, schrecklich oder lahm. Wer nett ist, macht sich unattraktiv. Frauen stehen auf Bad Boys, nicht auf Kumpeltypen. Nett ist uncool. Nett zu sein gilt nicht mehr als Kompliment, sondern als Charakterschwäche. Wer nett ist, kommt in seinem Leben nicht voran. Und ja: Nett ist die kleine Schwester von scheiße. So weit, so nett. Aber was ist bitte so verkehrt daran, freundlich zu seinen Mitmenschen zu sein?

Verdammt! Wozu hast du das Teil?

Zum Geburtstag habe ich das Buch „Böse Mädchen kommen in die Chefetage“ von Lutz Herkenrath geschenkt bekommen. Auch ich höre häufiger, ich sei zu lieb. Solle mal meine Ellbogen ausfahren. Auch mal zuerst an mich denken. Scheinbar brauche ich dringend einen Ratgeber, um meine dunkle Seite herauszukitzeln. Obwohl: Wer vor mir im Auto fährt, im letzten Moment scharf abbremst und in eine Straße abbiegt, ohne seinen Blinker zu setzen, der würde nicht mehr behaupten, ich sei ein friedliches Wesen. Verdammt! Wozu hast du das Teil? Doch zurück zum Buch.

Der Autor erklärt auf 225 Seiten in aller Ausführlichkeit, wie sich Frauen in einer immer noch männerdominierten Berufswelt durchsetzen können. Dabei sollten sie eines vor allem vermeiden: zu nett zu sein. Wer es doch ist, sei ein Schäfchen, schreibt er. Es trete meist in einer größeren Gruppe auf, Herde genannt, und sei leicht zu erkennen an seinem treuen bis treudoofen Gesichtsausdruck, den das Schäfchen auch dann noch beibehalte, wenn ihm übel mitgespielt wurde.

Nett sein kann sich auch auszahlen

Wer nett ist, gilt als schwach. Das lernen schon junge Berufsanfänger. Ja, natürlich sollte die Freundlichkeit nicht so weit gehen, dass man sich ständig ausnutzen lässt. Logisch. Niemand kann und muss immer nett sein. Wer sich bis auf den Chefsessel hocharbeiten will, muss auch mal Widerständen trotzen können. Vor allem sollte er aber authentisch sein. Ich finde es Quatsch, dass ein von Grund auf netter Mensch plötzlich den Boss raushängen lassen muss. Das wäre so, als würde ich eine Kolumne über die wilden Fünfziger schreiben. Das passt nicht.

Ich bin überzeugt: Wer seinen Kollegen freundlich begegnet, sie wertschätzt und respektiert, kann sie genauso mitreißen. Das gilt nicht nur im Job. Wer einen Fremden in der Bahn anlächelt, die Bachelorarbeit seines besten Kumpels Korrektur liest oder zu Hause den Müll rausbringt, wird es garantiert nicht bereuen. Ein Beispiel: Vor ein paar Wochen habe ich beim Ausparken das Heck eines fremden Autos gestreift (schön blöd, ich weiß). Die Kratzer sahen zwar nicht dramatisch aus – aber sie waren nicht wegzureden.

Also habe ich die Polizei angerufen, eine Stunde auf sie gewartet, meine Trotteligkeit zugegeben und die Personalien aufnehmen lassen. Erledigt. Am nächsten Tag hat mich der Besitzer des anderen Autos angerufen – und sich bedankt. Bisher seien die Leute einfach weitergefahren, sagte er. Wenn ich möchte, könnten wir die Versicherung gern aus dem Spiel lassen. Ich solle einfach ein paar Euro für die Lackstifte überweisen, den Rest erledige er selbst. Diese Geste würde ich als verdammt cool, herzlich und sympathisch bezeichnen. Oder noch besser: als nett.

Der Duden sagt: Nett ist hübsch!

Es wäre schön, wenn diesem vielseitigen Adjektiv wieder seine anfängliche Bedeutung zugeschrieben werden würde. Im Duden steht nämlich, nett sei jemand, der freundlich und liebenswert, im Wesen angenehm und hübsch ist.

Nettigkeit, die von Herzen kommt, sollte wieder als Tugend geschätzt werden. Nicht als Macke. Denn: Jemanden schlecht zu behandeln ist einfach. Meike Winnemuth hat es im „Stern“ einmal treffend beschrieben: „Nett ist das Größte, was man als Mensch erreichen kann. Nett erfordert Anstrengung und Disziplin, Geduld und Erfahrung, Empathie und Humor. Nett ist der moderne Zehnkampf des Lebens. Und es sagt alles über unsere Zeit, dass bedingungslose Freundlichkeit für die meisten Leute nur noch lachhaft ist.“ Amen.