Heute gibt’s mal eine Kolumne mit ganz schlimmen Schmerzen. Und hoffentlich sind sie nicht ansteckend ...?
Verzeihen Sie mir, liebe Leser, zu Beginn dieser Kolumne muss ich erst einmal eine Runde jammern (nur kurz, versprochen): Noch nie haben mich so schlimme Zahnschmerzen gequält wie in den vergangenen zwei Wochen. Nachts konnte ich kaum länger als eine Stunde am Stück schlafen. Ohne meine engsten Weggefährten – Schmerztablette und Kühlpack – waren die Beschwerden nur schwer zu ertragen. So oft wie in diesen Tagen hat mich mein Zahnarzt in den letzten zehn Jahren nicht gesehen.
So. Genug gejammert. Zugegeben, ich bin wirklich nicht als Heldin auf die Welt gekommen. Schon der Gedanke an Spritzen löst Panik in mir aus. Als kleines Mädchen mussten mich drei Männer beim Kinderarzt festhalten, um mir eine Impfung zu verpassen. Das erzählen zumindest meine Eltern. Aber, ganz ehrlich, ich kann es mir prima vorstellen. Jedenfalls: Wenn ich freiwillig zum Arzt gehe, habe ich wirklich Schmerzen.
Meine Mutter hat mir einen lieb gemeinten Ratschlag gegeben. Achtung: Ich solle versuchen, an etwas anderes zu denken. Wunderbar. Nichts lieber als das. Aber wie soll das funktionieren? Es ist ein Phänomen: Verzweifelt habe ich probiert, meinen pochenden, entzündeten Zahn zu vergessen. Doch egal, wie ich mich abgelenkt habe, ich wurde ständig an ihn erinnert. Eine Kostprobe.
Ich weiß jetzt, dass es drei verschiedene Werbespots für Zahnzusatzversicherungen im Fernsehen gibt. Außerdem läuft dort Reklame für Zahnpasta, Bürsten und Haftcreme von Prothesen rauf und runter. Und weiter: In Kai Pflaumes TV-Show „Klein gegen Groß“ erfahre ich am Sonnabendabend, dass Comedian Sascha Grammel (der Typ mit den sprechenden Puppen) gelernter Zahntechniker ist. Was auch sonst?
Das Thema verfolgt mich wie ein unsichtbarer Stalker. Am Montagabend – da sah die Schwellung in meiner Wange inzwischen nach einer missglückten Botox-Behandlung aus – saß ich mit zwei Freundinnen in der Komödie Winterhuder Fährhaus. Auf der Bühne stand Mademoiselle Nicolette – eine Sexbloggerin, die derzeit von 80.000 jungen Fans bei Instagram gehypt wird. Zur Erklärung: Nicolette ist eine Frau, die als Junge geboren wurde. Sie spricht schonungslos offen über Liebe, Sex und Transgender.
Falls Sie an dieser Stelle gern mehr zu ihr anstatt über meinen Verfolgungswahn erfahren hätten, berichte ich gern nächste Woche ausführlicher über Nicolette. Die Show war auf jeden Fall mehr als unterhaltsam – und hat mich fast zwei Stunden abgelenkt. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Bloggerin eine Beziehung mit – na klar – Zahnschmerzen verglich. Wie bitte? Gibt es da einen Zusammenhang? Und wieder wanderten meine Gedanken zum Zahn.
Doch die absolute Krönung erlebte ich am Wochenende: Beim Spaziergang habe ich auf einem Balkon an der Eppendorfer Landstraße einen mindestens einen Meter hohen sowie breiten Zahn aus Plastik entdeckt. Halluzinierte ich jetzt? Klar, die Erklärung war simpel. Wahrscheinlich gehörte er zu einer Zahnarztpraxis. Trotzdem: Schon etliche Male bin ich hier vorbeigelaufen – noch nie ist mir diese Kunststoffstatue aufgefallen. Die Situation war so absurd, dass ich laut loslachen musste.
Fest steht: All diese Sachen hätte ich gar nicht bemerkt, würde meine Aufmerksamkeit nicht auf meinem Zahn liegen. Einige Reize in unserer Umwelt nehmen wir bewusst, andere unbewusst wahr. Aus der Flut unzähliger Sinneseindrücke filtern wir das heraus, was uns gerade wichtig erscheint. So wie beim Liebeskummer. Plötzlich hören wir nur noch traurige Balladen im Radio oder sehen auf Autokennzeichen die Initialen des Verflossenen.
Was mich die vergangenen Wochen noch gelehrt haben: Dankbarkeit. Wir sollten für jeden Tag, an dem wir und unsere Liebsten gesund sind, dankbar sein. Leider fällt uns das häufig erst auf, wenn wir leiden. Dabei sollten wir uns immer wieder klarmachen, wie gut es uns eigentlich geht. Selbst mit entzündetem Zahn. Es gibt definitiv Schlimmeres.
Übrigens: Wenn ich diese Zeilen fertig geschrieben habe, darf ich meinem Zahnarzt den nächsten Besuch abstatten. Drücken Sie mir die Daumen, dass mir bald keine überdimensionalen Plastikzähne auf Balkons mehr auffallen ...