Stell dir vor, du hast Urlaub, der Schnee glitzert im Sonnenlicht, und du liest ein Buch über einen Kindermörder. Warum?

Guido Tramnitz drückt eine Rasierklinge unter seinen Fingernagel. Der Psychopath schiebt die Spitze tief ins Fleisch, benutzt sie wie einen Hebel – bis er den Nagel herausgeschnitten hat. Blut tropft auf den Boden der Zelle. Doch Tramnitz wimmert nicht. Er lacht. Als mehrfacher Kindermörder empfindet er schon lange keinen Schmerz mehr.

Ekelhaft. Abscheulich. Krank. Die nacherzählte Szene aus „Der Insasse“ dürfte nicht nur auf Rosamunde-Pilcher-Fans verstörend wirken. Das Absurde: Während ich den neuesten Psychothriller von Sebastian Fitzek gelesen habe, saß ich im Skiurlaub auf dem Balkon – umgeben von der idyllischen Bergkulisse der Dolomiten. Die Sonne kitzelte in meiner Nase. Aus dem wenige Meter entfernten Snow-Fun-Park hörte ich lautes Kinderlachen. Dort, in 1500 Meter Höhe, tickten die Uhren langsamer.

Doch anstatt die friedliche Ruhe zu genießen, habe ich mich mit den grausamen Fantasien eines Irren beschäftigt. Freiwillig! Jedes Detail auf einer neuen Seite des Romans schockierte mich ein Stückchen mehr, doch ich war so gefesselt, dass ich nicht mehr aufhören konnte zu lesen. Warum zieht mich das Böse so in seinen Bann?

Fitzek ist der derzeit bekannteste deutsche Thrillerautor. In seinen Werken werden Kinder gekidnappt, gequält, manchmal getötet. So wie in „Der Insasse“. In dem Buch verschwindet der kleine Max. Nur der Täter weiß, was mit ihm geschehen ist. Doch Guido Tramnitz (ja, der Psychopath mit der Rasierklinge) sitzt im Hochsicherheitstrakt der Psychiatrie und schweigt. Um Gewissheit über das Schicksal seines Sohnes zu bekommen, sieht Max’ Vater nur eine Lösung: Er wird selbst zum Insassen.

Wer denkt sich so abartige Verbrechen aus?

Ganz ehrlich, schon oft habe ich mich beim Lesen oder Gucken von Krimis gefragt: Wer denkt sich so abartige Verbrechen aus? Der Autor gehört doch selbst dringend auf die Couch, oder? Andererseits: Was läuft denn bei mir verkehrt, dass ich auch noch Geld bezahle, um von Kindesentführungen zu lesen?

Doch Sebastian Fitzek, dessen Werke inzwischen in 24 Sprachen übersetzt und mehr als elf Millionen Mal verkauft wurden, ist nur ein Beispiel von vielen. Im Fernsehen laufen Serien wie „Akte X“, „Criminal Minds“, „CSI: NY“, „Law & Order“ und „Navy CIS“ rauf und runter. Die Netflix-Dokumentation über den Serienmörder Ted Bundy löste Anfang des Jahres einen Hype in meiner Generation aus. Ja, richtig – das ist der Typ, der mindestens 30 Frauen brutal vergewaltigt, getötet und zerstückelt haben soll.

Ein paar Fakten: Laut Statista schauen sich mehr als 19 Millionen Deutsche ab 14 Jahren gern Krimis im Fernsehen an. Zum „Tatort“ schalten durchschnittlich acht Millionen Zuschauer am Sonntag ein. Und auch so einige unter Ihnen, liebe Leser, haben eine Vorliebe für Nachrichten über Verkehrsunfälle, Straftaten und Tote im Abendblatt. Unvorstellbar: Jahrelang pilgerten sogar Touristen zum ehemaligen Wohnhaus von Josef Fritzl in Amstetten, der seine eigene Tochter 24 Jahre lang in einem Kellerverlies missbrauchte und mit ihr sieben Kinder zeugte. Grausam. Eine derartige Sensationslust kann ich nicht mehr nachvollziehen. Aber die Frage bleibt: Wie lässt sich unsere Faszination für Verbrechen denn nun erklären?

Es gibt diverse Theorien. Sehr häufig machen Psychologen unsere Neugierde und den Reiz von etwas Verbotenem verantwortlich. Alles, was von der Norm abweicht, weckt unser Interesse. Deswegen sind Thriller häufig besonders verstrickt, blutig und brutal. So bizarr es auch klingen mag, aber sie geben unserem geordneten Leben eine Art „Kick“.

Im vergangenen Sommer habe ich nach gefühlt 1000 Liebesschnulzen meinen ersten Krimi gelesen. Schon nach den ersten Seiten hatte ich eine gruselige Gänsehaut am ganzen Körper. Aber ich konnte das Buch („Das Paket“) einfach nicht weglegen. Wir haben Angst vor Gewalttaten. In Romanen oder Fernsehserien setzen wir uns mit ihnen auseinander – aber kontrolliert. Wir können jederzeit aufhören. Wer nicht gerade bei der Mordkommission arbeitet, hat zudem eine beruhigende Distanz zum Verbrechen. Einige interessiert es erst gar nicht. Auch gut. Nichts spricht gegen einen schönen Rosamunde-Pilcher-Kitschfilm mit Happy End.