Die permanenten Forderungen nach Amtsaufgabe vernebeln die wichtigen Fragen.

Deutschland ist ein seltsames Land. Hinter uns liegt einer der heftigsten Gewaltexzesse der vergangenen Jahrzehnte, und eine Fülle von Fragen und Verantwortlichkeiten sind zu klären. Doch die politische und mediale Debatte konzentriert sich auf einen Punkt – den Rücktritt des Bürgermeisters. Als wäre die Hansestadt ein Fußballverein, bei dem es gerade nicht rundläuft und ein neuer Trainer die Wende schaffen soll. Es ist die plakative Verkürzung tief reichender Probleme.

Natürlich steht der Bürgermeister völlig zu Recht in der Kritik. Mehr noch als seine törichten Sprüche vor dem G20-Gipfel und das Versagen in der Nacht der ­Anarchie empört nun sein unglücklicher Umgang damit. Olaf Scholz fehlte nicht nur in der Schanze am Morgen danach, bis heute wartet die Stadt auf ein empathisches Eingeständnis eines Fehlers. „Don’t complain, don’t explain. Beschwere dich nicht darüber, was war – und erkläre es auch nicht.“ Hält er zu lange an diesem seinem Grundsatz fest, könnte er die längste Zeit SPD-Hoffnungsträger gewesen sein. Die Menschen fordern Erklärungen.

Aber nicht nur von Olaf Scholz. Es wäre auch die Frage zu klären, warum die Grünen die Taktik des Einsatzleiters im entscheidenden Punkt verhindert haben: Die Polizei wollte Camps verbieten, aus denen dann später massive Straftaten wie das Brandschatzen auf der Elbchaussee begangen wurden. Die Grünen waren dagegen – müssen sie damit auch zurücktreten? Und was ist mit der Linkspartei? Sie marschierte noch am Sonnabend, also nach dem Gewaltexzess, mit dem Schwarzen Block gemeinsam durch Hamburg. Wo bleiben da die Rücktrittsforderungen?

Und was ist mit dem Bundesverfassungsgericht, das unter Auflagen die Protestcamps erlaubte? Was mit den Juristen der Stadt, was mit den Klägern? Müssen die alle zurücktreten?

Auch die Polizeiführung wird sich, bei allem Respekt für die Leistung der 20.000 Beamten in der Stadt, kritischen Fragen nach Einsatzleitung und Prioritäten stellen müssen. Rücktritte kann niemand ausschließen. Man darf auch noch einmal an die unglückliche Rolle der evangelischen Kirche erinnern. Gleich sechs Pröpste forderten in der vergangenen Woche Zeltplätze für die Gegner und öffneten ihre Kirchen. Das war gut gemeint – aber das Gegenteil von gut. Wo bleibt das Mea Culpa?

Maxima Culpa, die große Schuld, liegt bei der Roten Flora. Vor dem G20-Gipfel konnten die Linksradikalen vor Kraft kaum laufen, überall im Ausland wurden Schwarze Blöcke eingeladen. Nun erlebt man die Sprecher erstmals zerknirscht und selbstkritisch. Die Entschuldigung ist ein erster Schritt – aber reicht der? Und was ist mit den „Aktivisten“ von Attac bis zum Magazin „Zecko“, die stets lautstark gegen ihre Gegner poltern, aber bei Gewalt von Gesinnungsfreunden unerträgliche Leisetreter werden? Treten die zurück?

Auch etliche Medien dürfen sich durchaus kritische Fragen stellen. Es wirkt bigott, sich erst wortgewaltig für Camps und maximale Demonstrationsfreiheit zu streiten – und dann am Montag Scholz’ Rücktritt zu fordern.

Diese Debatte geht am Kern vorbei. Vielmehr muss die Gesellschaft diskutieren, warum man linke Gewalt über Jahre geleugnet, verniedlicht oder heroisiert hat – vor allem, wie man das ändern will. Und klären, warum eine Gesellschaft, die Gewaltfreiheit zur obersten Maxime erklärt, plötzlich zu solchen Wutausbrüchen neigt.

Nein, die Aufarbeitung wird und muss länger dauern – mit allen, die Verantwortung tragen.