Hamburg. Interner Bericht eines Einsatzführers und Angaben des bayerischen Innenministeriums ähneln sich. Zu spät Gewahrsam beantragt.
Das Wohnhaus am Schulterblatt 1 spielte nach Darstellung der Polizei eine Schlüsselrolle während des beispiellosen Krawalls im Schanzenviertel am Freitagabend. Zum Teil vermummte Hooligans kletterten das Gerüst hoch, hievten Steine aufs Dach und bauten eine Falle für die Beamten – die Kriminellen sollen sich mit Gehwegplatten, Eisenstangen und Molotow-Cocktails eingedeckt haben, so die Polizei.
Während die Polizei außerhalb der Krawallzone wartete, tobte und wütete der Mob auf dem Schulterblatt. Mehrere Polizei-Einheiten widersetzten sich nach Abendblatt-Informationen einer direkten Anweisung, ins Viertel vorzurücken – aus Sorge um ihr Leben. Erst Stunden später beseitigte ein Sondereinsatzkommando (SEK) den Hinterhalt auf dem Dach. Die dabei vorläufig festgenommenen 13 Männer befinden sich inzwischen alle wieder auf freiem Fuß.
Das wahre Dilemma
Erst jetzt offenbart sich das wahre Dilemma des Einsatzes und der Krawallnacht, die buchstäblich verbrannte Erde hinterließ – und in ein totales Chaos, zeitweilige Anarchie und Plünderung von Geschäften mündete. Das Desaster fing damit an, dass die Polizei vor den Ausschreitungen den Schlüssel für das Wohnhaus am Schulterblatt 1 erhalten hatte. Ob Hausverwalter Jan T. dabei auch darauf hinwies, dass es wegen des Gerüsts bei Krawallen zu Problemen kommen könnte, ist unklar. Die Polizei hätte das Haus also vorher sichern können – wenn sie gewollt hätte.
Polizeipräsident Ralf Martin Meyer sagte gestern jedoch, man habe eine Vielzahl von Schlüsseln für Gebäude auf dem Schulterblatt bekommen, dies wäre im Fall einer Hausbesetzung hilfreich gewesen. In allen Szenarien sei jedoch nicht vorgekommen, dass Dächer besetzt und Fallen gelegt würden. Allerdings habe man schon zuvor gewusst, dass die Szene ihre „Angriffsintensität“ steigern wolle, auch mit Brandsätzen gegen Beamte. „Es ging um Leben und Tod, um es auf den Punkt zu bringen“, so Meyer. Zudem sei durch Luftbilder bekannt geworden, dass auch auf weiteren Dächern Gewalttäter der Polizei auflauerten.
Die Polizei hatte sich am Freitagabend mit mindestens sieben Wasserwerfern, zwei Räumpanzern und mehreren Hundertschaften am Neuen Pferdemarkt in Position gebracht, sah dem Treiben aber zunächst tatenlos zu. Gegen 21 Uhr hatte sie ihre Kräfte „durchsortiert“ und wäre bereit zum Vorstoß gewesen. Doch Polizeiführer Hartmut Dudde entschied sich dagegen – die Situation war zu brenzlig.
Wie aus einem internen Bericht hervorgeht, der von einem Einsatzführer vor Ort stammen soll, hatten „gewaltbereite Personen zahlreiche Dächer“ am Schulterblatt und in den Seitenstraßen besetzt. Es sei mit einem Bewurf durch Steine, Gehwegplatten, Brandsätze und Zwillenbeschuss mit Stahlkugeln zu rechnen. Dudde sprach später auch von Molotowcocktails. Eine Stahlkugel habe die Panzerung eines Wasserwerfers eingedellt – dies habe gezeigt, wie gefährlich der Einsatz war, schrieb der Einsatzführer weiter.
Polizisten körperlich völlig am Ende
Er habe dann mit seinen Kollegen versucht, aus Richtung Altonaer Straße – also vom anderen Ende aus – aufs Schulterblatt vorzudringen. Dabei seien die Einheiten dermaßen unter Druck geraten, dass Angriffe nur durch „massiven Wasserwerfereinsatz“ abgewehrt werden konnten. Ein weiteres Vorrücken habe sich deshalb verboten. Oder mangelte es schlicht an Beamten, weil zuviele durch den Gipfel-Einsatz gebunden waren?
Ein Polizist, der anonym bleiben möchte, sagte dem Abendblatt: „Man hätte die vorhandenen Kräfte aufteilen können, aber es waren definitiv zu wenig. Außerdem waren die meisten Polizisten körperlich völlig am Ende – viel zu ausgelaugt, um diesen Mob zu bekämpfen.“ Ähnlich bewerteten auch andere Einheiten die Lage, darunter auch bayerische Polizisten, die auf Anweisung ihres Vorgesetzten in die Krawallzone vorstoßen sollten, wie das bayerische Innenministerium dem Abendblatt bestätigte. Sie widersetzten sich jedoch der Weisung. Sie „remonstrierten“ (wie der Widerspruch gegen die Weisung eines Vorgesetzten genannt wird). Begründung: Bei einem Einsatz seien sie „erheblich gefährdet“. Daraufhin kam es zur SEK-Operation.
Widersprüche aufgetaucht
Das Problem: Das SEK mit Hamburger und österreichischen „Cobra“-Kräften – beim Gipfel für die Terror-Bekämpfung zuständig – schützte zu diesem Zeitpunkt noch die Elbphilharmonie. Die Einheit habe erst „ausgegraben“ werden müssen. Dann brachen die mit Sturmgewehren und Zieloptik ausgerüsteten Spezialkräfte die Tür des Ladens „Kauf dich glücklich“ im Erdgeschoss des Gebäudes am Schulterblatt 1 auf und stürmten aufs Dach.
Allerdings sind Widersprüche zur bisherigen Darstellung aufgetaucht. Um zu belegen, wie gefährlich der Einsatz auf dem Schulterblatt war, hatte die Polizei im Internet Aufnahmen einer Wärmebild-Videokamera des Polizeihubschraubers veröffentlicht. Darauf ist zu sehen, wie etwa acht Menschen vom Dach des Hauses Steine und einen Brandsatz herunterwerfen. Das war um 23.43 Uhr. Nach Angaben von Gerichtssprecher Kai Wantzen hatte das SEK 13 Männer – neun Deutsche und vier Russen – aber bereits um 23.26 Uhr festgenommen: im Hinterhof, auf dem Dach und in weiteren Gebäudeteilen. Die Polizei konnte diesen Widerspruch nicht aufklären.
Offenbar konnte die Spezialeinheit dabei keine Beweise sichern. Legt man zugrunde, dass diese Information stimmt, würde das bedeuten, dass andere Randalierer nach dem SEK-Zugriff und dem Vorrücken der Polizei ins Viertel abermals aufs Dach gestiegen sind und von dort die Beamten beworfen haben. Dabei landete ein Molotowcocktail auf einem Wasserwerfer, der sich langsam ins Viertel vorgetastet hatte. Dieser Brandsatz explodierte jedoch nicht. Um 0.01 sind in dem Video Spezialkräfte auf dem Dach zu sehen: ein zweiter Einsatz? Aufklären konnte die Polizei diesen
Widerspruch auf Anfrage bisher nicht.
Die 13 vorläufig Festgenommenen sind alle wieder auf freiem Fuß. In keinem Fall war Haftbefehl, sondern nur Polizeigewahrsam beantragt worden, sagte Gerichtssprecher Wantzen. Die 13 Anträge habe die Polizei am Sonnabend, gegen 21.30 Uhr, eingereicht – zweieinhalb Stunden vor Ablauf der Frist. „Diese Verzögerung führte zu einer für uns praktisch nicht mehr zu lösenden Situation, in so kurzer Zeit 13 Anhörungen, teilweise mit Dolmetscher zu arrangieren“, sagte Wantzen.
Keine Beteiligung an Gewalttaten nachgewiesen
Daher habe nur noch in acht von 13 Fällen eine Entscheidung getroffen werden können. Folge: Viermal wurde Gewahrsam angeordnet, in vier Fällen konnte den Verdächtigen keine Beteiligung an Gewalttaten nachgewiesen werden, sie kamen sofort frei. Fünf weitere mussten entlassen werden, weil die Zeit für eine Entscheidung nicht mehr reichte.
7000 Menschen bei Reinigungs-Aktion:
7000 Menschen bei Reinigungs-Aktion in der Schanze