Unweihnachtliche Gedanken zu einer Weihnachtsrede: zuhören, ohne physisch zu leiden
"Maß für Maß" heißt Shakespeares wohl bitterste Komödie, in der ein Herzog in Wien sich verkleidet, um Korruption, Missstände, Vetternwirtschaft und Begünstigungen bei seinem Statthalter auszuspionieren. Nun ist Hannover nicht Wien. Und die Durchstechereien und Amigo-Geschäfte (die im heutigen Wien übrigens heftiger toben als im heutigen Hannover) finden in Bierkellern beim Tischfußball statt, oder man schnorrt sich in den Ferien durch fremde Luxusvillen und Ferienbetten betuchter Geschäftsleute, auch wenn man Ministerpräsident ist und später Präsident wird. Auch das Reihenhaus ist kein Wiener Palazzo, aber die 500 000 Euro wollten dennoch besorgt sein.
Nun, spät, und, wie ich fürchte, zu spät und zu verquast, hat der Präsident sich wegen "mangelnder Gradlinigkeit" entschuldigt. Tapfer ließ er seinen Pressesprecher, mit dem er zwölf Jahre lang verbunden war, konsequent über die Klinge springen. "Bauernopfer" heißt das im Schach, "den Sack für den Esel schlagen" bei Bauern.
Jetzt droht die Weihnachtsansprache Wulffs, scheinbar frei von jeder Altlast, und da heutige Bürger mündiger sind als die italienischen Wiener in Shakespeares elisabethanischer Komödie, werden sie sich angesichts der piefigen, verdrucksten Kegelbrüder-artigen Geschäftsverbindungen wohl auf die Schenkel schlagen, wenn der Präsident bürgerliche Tugenden wie Aufrichtigkeit, Wahrheit, Maßhalten in der Krise und geistige Kreditwürdigkeit beschwört. Maß für Maß heißt ja in unserer Vergnügungsgesellschaft "O'zapft is!" oder "Hoch die Tassen!" auf hannoverschen Hochzeitsfeten, die der Freunderlskreis gleich zweimal für den künftigen Präsidenten und Ministerpräsidenten anrichten ließ.
Nun gehört zur echten Reue, dass man Buße tut und auf sein Amt verzichtet, wenn es den eigenen strengen Maßstäben nicht gehorcht. Maß für Maß. Wulff gibt lieber seinem siamesischen Bruder einen Tritt in den Hintern, als wollte er sagen: Das hat sich dieser dumme Kerl ausgedacht. Aus der Nummer kommt der Präsident nicht mehr raus, auch wenn er ewig Präsident bliebe. Jetzt könnte Wulff zurücktreten und mit Giovanni di Lorenzo ein Buch schreiben, das den Guttenberg-Titel trägt: "Vorerst gescheitert". Da brauchte er keinen Mäzen, das Buch würde sich wie warme Semmeln verkaufen, und Wulff könnte auf eigene Kosten an mondänen Stränden urlauben. Da dies aber nicht so ist und Politiker nach dem Motto leben "Was geb ich auf mein Geschwätz von vorgestern", wird er Weihnachten beim Reden an sein Volk wieder aufs hohe moralische Ross steigen.
Ach, die Weihnachts- und Neujahrsansprachen! Mein Vorschlag zur Güte: Weihnachtsansprachen werden wiederholt wie "Dinner for One" zu Silvester, Jahr für Jahr. Dann kann Wulff Präsident bleiben, ohne dass wir beim Anhören seiner Rede physisch leiden. Wir können ja einfach abschalten.