Hamburg. Zwei Unterkünfte für Geflüchtete stehen derzeit neben den Deichtorhallen. Warum die Prototypen ein Zeichen der Menschlichkeit sind.
„Wir müssen doch etwas tun können!“ Das sei einer der ersten Gedanken gewesen, die den Architekten Florian Müller nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 umtrieben. Und weil der Krieg von Beginn an unablässig Häuser, Wohnungen und Infrastruktur in der Ukraine zerstörte, war auch schnell eine Idee geboren, wie Müller und einige Branchenkollegen dem Land helfen können.
Gemeinsam mit Thomas Bussemer vom Bund Deutscher Baumeister, Architekten und Ingenieure e.V. (BDB) wurde er auf den ukrainischen Architekten Slava Balbek aufmerksam und sorgte dafür, dass dessen Entwürfe für modulare Geflüchtetenunterkünfte Wirklichkeit werden. Die ersten zwei Prototypen, erbaut von Studierenden der Technischen Hochschule Lübeck und der Technischen Universität Darmstadt, stehen gerade als Teil des Architektursommers auf dem Gelände der Deichtorhallen in Hamburg.
Architektur Hamburg: Prototypen von Geflüchtetenunterkünften
Bewegt von der gelungenen internationalen Zusammenarbeit im Zeichen der Menschlichkeit namens „Project: Unity!“, machte sich sogar der Kopf hinter der Konstruktion, Slava Balbek, auf den Weg von Kiew nach Hamburg. Der ukrainische Architekt misst den beiden Prototypen, die die Studierenden entlang seiner Entwürfe geplant und gebaut haben, einen hohen Stellenwert bei. Schließlich existiert das Projekt seines Kiewer Planungsbüros, das unter dem Titel „Re: Ukraine“ läuft, jetzt nicht mehr allein als PDF-Datei. „Es ist extrem wichtig, nun etwas Physisches zu haben – denn wir Menschen glauben nur das, was es physisch gibt“, sagt Balbek.
„Treatment architecture“, also etwa „Behandlungsarchitektur“, nennt Slava Balbek das, was er als modulare Geflüchtetenunterkünfte entworfen hat. Er möchte sich mit seiner Idee ganz bewusst vom bislang vielfach genutzten Wohncontainer abgrenzen.
Denn: „Wie steht es um die geistige Gesundheit einer Person, die jahrelang in einem Schiffscontainer lebt?“, fragt er. Der Kiewer stellt die Würde des Menschen in den Mittelpunkt seiner Arbeit und möchte es den Bewohnerinnen und Bewohnern schon architektonisch möglichst leicht machen, soziale Beziehungen sowie ihre psychische und physische Gesundheit wiederherzustellen.
„Man kann sich in einer temporären Architektur wohlfühlen“, sagt der Architekt
Doch lässt sich so ein abstraktes Konzept wie Würde in Architektur verwandeln – und wenn ja, wie? Die Einzigartigkeit jedes Menschen schlägt den typischen Einheitscontainer. Deshalb sind Balbeks temporäre Unterbringungslösungen variabel kombinierbar, und ihr Interieur lässt sich auf die jeweiligen Bewohner abstimmen. Eine Familie möchte schließlich nicht leben wie ein älteres Ehepaar, und das erwartet wiederum ganz anderes von einem Zuhause-auf-Zeit als ein Jugendlicher.
Außerdem von kritischer Relevanz, wenn es nach dem Architekten geht: das bisschen Extraplatz. „Over-Comfort“ nennt er das. Ein bisschen mehr, als man braucht – ein bisschen größer, als die Mindeststandards verlangen. „Wir haben jenes bisschen Platz hinzugefügt, das eigentlich keine Funktion hat. Es ist einfach ein Raum, um zu sein. Vielleicht um sich allein zu fühlen, vielleicht um miteinander zu kommunizieren“, so Balbek.
„Man kann sich in einer temporären Architektur wohlfühlen“, das wolle der Architekt beweisen. Grundlegend dafür sind ihm nach auch Gemeinschaftsräume, Klassenzimmer oder Erholungsorte, die Teil der Eben-nicht-Containerdörfer Marke Balbek sein sollen. Die „frische Kreativität“ der Studierenden aus Darmstadt und Lübeck, die die beiden Prototypen errichtet haben, komme ihm da gerade recht.
Von Hamburg werden die Unterbringungen nach Lwiw in der Ukraine gebracht
Noch bis zum 8. Juli sollen die beiden hölzernen Wohneinheiten als Teil des Architektursommers auf der Wiese zwischen den Deichtorhallen und dem Haus der Fotografie Phoxxi stehen, anschließend bringt sie ein Transporter nach Lwiw, wo sie ihrem eigentlichen Zweck dienen und ukrainische Binnenflüchtlinge beherbergen sollen.
Während sich die Lübecker Studierenden in erster Linie auf den Innenausbau ihrer Unterkunft konzentriert haben, legten die Darmstädter besonderes Augenmerk auf den Rohbau. Bunt gestrichene Balken vermitteln nicht nur einen lebenswerten Eindruck, sie helfen auch, um die einzelnen Bauelemente beim Auf- und Abbau richtig zu identifizieren.
Eine bis zu fünfköpfige Familie könnte in der Konstruktion untergebracht werden, sagt der 29-jährige Jannis Protzmann, der an der TU Darmstadt Plastisches Gestalten studiert hat und gerade sägespäneübersät am Endspurt des Aufbaus beteiligt ist. Über dem großzügigen Wohnraum befindet sich eine zweite Etage, das Schlafzimmer. Aufgestockt haben die Studierenden mit Papierhülsen, einem günstigen, leichten, recycelbaren und dennoch stabilen Werkstoff.
Am „Project: Unity!“ sollen sich auch ukrainische Studierende beteiligen
Thomas Bussemer vom Bund Deutscher Baumeister, der das Projekt gemeinsam mit dem Architekten Florian Müller an die Hochschulen gebracht hat, begrüßt die Vielfalt der Gewerke und Disziplinen, die das „Project: Unity!“ potenziell unterstützen können. Es handle sich hierbei nicht um eine Exklusivität für Architekturstudierende. Auch Bauingenieure oder Statiker könnten einfach mal den Stift aus der Hand fallen lassen und so richtig mit anpacken.
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Deshalb ist das Projekt mit den beiden just fertiggestellten Prototypen auch nicht beendet. Noch mehr Hochschulen ins Boot zu holen, können sich Bussemer und Müller vorstellen. Balbek würde im nächsten Schritt gern auch ukrainische Studierende einbinden. „Das hier ist zu einhundert Prozent erst der Start“, sagt er. Immerhin sei die Entwicklung von Geflüchtetenunterkünften – leider – ein Projekt mit Zukunft, das zudem nicht ausschließlich Menschen in der Ukraine betreffe.
Architektur Hamburg: Ukrainischer Architekt will Unterkünfte in Butscha bauen
Balbek selbst steckt seit dem Angriff Russlands auf seine Heimat alle Kräfte in humanitäre Hilfe und hat die eigentlichen, wirtschaftlich betrachtet sicherlich gewinnbringenderen Projekte des Planungsbüros vorerst auf Eis gelegt. Aktuell versucht er, einige seiner Geflüchtetenunterkünfte in der stark zerstörten Stadt Butscha im Nordwesten Kiews zu errichten.
Bislang jedoch konnte Balbek nicht genug Spenden eintreiben, um das Vorhaben zu realisieren. Geld für direkte Militärhilfe zu sammeln sei bedeutend einfacher als für ein Projekt wie „Re: Ukraine“, klagt er. Apropos: Der Architekt verbringt sein derzeitiges Leben abwechselnd am Schreibtisch und als Soldat im freiwilligen Militärdienst. Jeweils am Monatsende zieht Balbek für zehn Tage an die Front. Er erzählt das, als sei es das Normalste von der Welt.
Anpassung sei hier das Stichwort, meint Balbek: „Mir geht es echt in Ordnung gerade. Wissen Sie, der Mensch kann sich sehr schnell an schlechte Bedingungen anpassen – viel schneller, als man denkt.“ Was der Architekt aber auch zugibt: Dass er sich und seine Profession nützlich machen kann, trägt zu seiner guten Verfassung enorm bei.