Hamburg. Alles muss raus: Isländische Band Sigur Rós und das London Contemporary Orchestra kehren in der Elbphilharmonie ihr Innerstes nach außen.
Die isländische Band Sigur Rós blickt auf bewegte Zeiten zurück. Mit ihren verschachtelten wie treibenden Post-Rock-Kompositionen gilt die Formation neben Künstlerin Björk als größter musikalischer Exporterfolg ihrer Heimat. Jene also, die den versponnenen Zauber des nordischen Inselstaats in die Welt tragen. Doch zehn Jahre lang hat die Band um Sänger und Gitarrist Jón Þór „Jónsi“ Birgisson kein Album veröffentlicht.
In der Zwischenzeit gab es unter anderem einen prestigeträchtigen Auftritt in der Serie „Game of Thrones“ sowie einige Touren und Soloprojekte, aber auch zwei heftige Anklagen wegen Steuerhinterziehung. Zudem verließ Schlagzeuger Orri Páll Dýrason 2018 die Band, nachdem er sexueller Übergriffe beschuldigt wurde. Als „depressiv, schwer und intensiv“ bezeichnete Jónsi jüngst im britischen „Guardian“ die Phase, aus der nun ihr neues achtes Album „Átta“ hervorgegangen ist. Das Ergebnis sei ein wenig wie eine Decke, die Geborgenheit gibt.
Elbphilharmonie: Beim Konzert schwingt die bewegte Vorgeschichte mit
Auch Keyboarder Kjartan Sveinsson, der Sigur Rós 2013 verlassen hatte, kehrte für die Produktion zurück. Und für die anstehenden Konzerttermine mit dem London Contemporary Orchestra. Diese gesamte Geschichte schwingt also mit beim Auftritt von Sigur Rós im Großen Saal der Elbphilharmonie.
Sehr viele Fans wollten erleben, wie da eine Band live ihr Streben nach Schönheit und Heilung zelebriert. Nach Stationen in der Londoner Royal Festival Hall sowie im Concertgebouw in Amsterdam war das Hamburg-Konzert bald ausverkauft. Vor der Tür standen diverse Kartensuchende. Im Foyer bildete sich eine lange Schlange vor dem Merchandise-Stand mit T-Shirts und Postern. Drinnen dann absolute Aufmerksamkeit. Was für eine Magie der Saal doch entfaltet, wenn ein Publikum derart andächtig lauscht.
Auftritt in Hamburg: Als ginge es um eine Art kollektive Gesundung
Zwei Sets spielt Sigur Rós mit dem jungen London Contemporary Orchestra an diesem Sonntagabend. Jónsi, Dýrason und Bassist Georg Hólm sind gänzlich eingebettet in diesen Klangkörper, mit Blick auf das einfühlsame Dirigat von Robert Ames. Die erste Hälfte ist ein großes Ein- und Ausatmen. Als sollte das gesamte Publikum synchronisiert werden auf diesen pulsierenden Organismus namens Sigur Rós. Als ginge es um eine Art kollektive Gesundung.
Die Streicher schwellen flirrend auf und ab. Und wenn sich Jónsi wie in der Eröffnungsnummer „Blóðberg‟ voller Klagen, Flehen und Hoffen in seinen sirenischen Falsettgesang hineinsteigert, dann scheint das Orchester diese Gefühlsregungen seismografisch aufzunehmen. Mitunter, wie etwa in „All Allright“ und „8“, schraubt sich seine Stimme ins Schmerzvolle. Als schneide sie direkt ins Fleisch, ins Herz.
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Den dynamischen Höhepunkt des ersten Sets markiert wiederum „Starálfur“, das von intimer Akustikgitarre bis zum satten Trommelschlag reicht, bevor sich das Orchester schließlich in beatlesken Harmonien entlädt. Viel Applaus. Und ein Zuschauer sagt da in der Pause: „Ich bin jetzt schon fix und fertig.“ Im guten Sinne. Sigur-Rós-Konzerte sind ohnehin gerne einmal kathartische Ereignisse. In dieser ungewohnten Form, ohne den Schub des Rock, ohne das Schroffe und Schräge, aber mit stimmungsvoll herausgearbeiteten Nuancen, wirken sie noch einmal auf einer anderen Ebene.
Sigur Rós – ein Sound zwischen Walgesängen und kosmischer Resonanz
Sigur Rós produziert eine tausend Tränen tiefe Atmosphärenmusik, die die Seele Song für Song durchlässiger macht. Flankiert wird diese sanfte Überwältigung von warmer Glühbirnenbeleuchtung, jedoch nicht von Ansagen. Als könne das gesprochene Wort die fragilen musikalischen Konstrukte unmittelbar zu Staub zerfallen lassen.
Von Ende 1990er-Jahre bis heute reichen die Stücke, die die Band im Laufe von gut zwei Stunden in diesem fein arrangierten orchestralen Gewand präsentiert. Immer mal wieder wechseln die Musiker an andere Instrumente. Jónsi spielt ab und an eine kleine Orgel. Doch meist bearbeitet er seine Gitarre – mal mit der Hand, mal mit dem Cellobogen. Ein Sound zwischen Walgesängen und kosmischer Resonanz.
Elbphilharmonie: Konzert als eine heilsame Erfahrung für Band und Publikum
Die zweite Hälfte dieses Konzertabends ist nicht ganz so konzentriert meditativ, sondern gestaltet sich abwechslungsreicher. Angefangen mit zwei Nummern aus dem „Untitled“-Werk, die Jónsi in seiner eigenen fiktionalen Sprache singt. Wunderbar spannungsgeladen auch „Heysátan“ mit akzentuiertem Vibrafon, getragenen Bläsern und einem schönen Sinn für die Wirkung von Pausen. Hymnisch wiederum das Finale mit „Hoppípolla“. Alles muss raus. Jónsis Stimme fliegt. Vielleicht muss ein Künstler auch einfach einige Jahre pausieren, wenn er so aus sich heraus singt. Das Innerste nach außen. Musik, die sich vom eigenen Ich zu entkoppeln scheint und auf etwas Höheres verweist.
„You are amazing“, ruft ein Fan euphorisch in den Saal hinein, bevor der Jubel losbricht. Ohne Band geleitet das Orchester dann die Menge mit dem brodelnden „Avalon“ in die Nacht. Für einen ausdauernden Applaus und Standing Ovations kehrt Sigur Rós dann aber noch einmal an die Bühnenrampe zurück. Freudig strahlend. Zu Recht. Immerhin hat die Band mit ihrer Musik ihren eigenen Balsam für die Seele angerührt. Eine heilsame Erfahrung, auch für das Hamburger Publikum.