Urbane Kunst ist zwar oft illegal, kann aber auch ästhetisch und politisch sein. Außerdem ist die Subkultur längst im Mainstream angekommen.
Hamburg. "Subkultur" ist ein tolles Wort, und es bezeichnet eine noch tollere Sache: nämlich die Klasse der Kreativen in der Nische, die weder U noch E machen, um's mal auf Deutsch zu sagen. Aber sowenig der Unterschied zwischen ernster und unterhaltender Kultur haltbar ist (es gibt ihn so auch nur in Deutschland), so wenig präzise ist der Begriff der Subkultur.
Das wird nirgendwo deutlicher als angesichts des Siegeszugs der Streetart, von der nur noch Ignoranten behaupten, sie sei die Übertragung von Kritzeleien an der Toilettenwand nach draußen: auf den Brückenpfeiler, die S-Bahn oder die Hauswand.
Der englische Schablonengraffiti-Künstler Banksy hat Erfolg mit Filmen ("Exit Through The Giftshop"), Büchern und Ausstellungen. Als Künstler, der ein bestimmtes Verständnis davon hat, was Massenbezug ist, ist Banksy zur Legende geworden. Seine Kunst soll nicht nur die Fantasie der Betrachter herausfordern, sondern auch politisch Stellung beziehen. Seine Kunst im öffentlichen Raum ist genauso illegal wie die der anderen Künstler, die ihr Betätigungsfeld an den viel frequentierten Orten der Stadt finden. Und sie ist "Volkskunst", fristet keine Nischenexistenz. Man darf sagen, dass die Streetart "Mainstream" ist, um ein weiteres Mal das Englische zu belehnen, das sowieso nicht verkehrt ist: "Straßenkunst" ist eine internationale Angelegenheit.
Wenn man sich die Leistungsschau der Kunstromantiker und Stadtstreuner anschaut, die die beiden nun erschienenen, herausragenden Bände "Trespass. Die Geschichte der urbanen Kunst" (Taschen Verlag) und "Beyond The Street. The 100 Leading Figures in Urban Art" (Gestalten Verlag) veranstalten, muss man sagen: Die Aneignung des Raums wurde in so vielen Städten der Welt betrieben, dass man aus dem Reisen nicht mehr herauskäme, wollte man alle Kunstwerke sehen. Die der Allgemeinheit gehörenden Hinterlassenschaften, die auf Asphalt und Gemäuer platzierten Kommentare zum Zeitgeschehen von Künstlern, die oft unerkannt unter erfundenen Namen arbeiten: Swoon, Akay, Zevs, SpY.
Streetart hat sich in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten zu einer Szene entwickelt, in der sich die Hauptfiguren gegenseitig zitieren oder aufeinander beziehen. In der norwegischen Stadt Stavanger gibt es seit fünf Jahren das "Nuart"-Festival, zu dem Künstler aus aller Welt kommen und ihre Kunst der Stadt schenken - zur Freude ihrer Bewohner und Politiker. Was die Leute in Norwegen zum Beispiel gelernt haben wie alle anderen, die das Glück hatten, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, ist: Streetart ist nicht unbeweglich, nicht gleichbedeutend mit Gesprühtem und Gemaltem. Nele Azevedo etwa hat ihr "Minimum Monument Project" einst vor das Gebäude des Nationalkongresses in Brasilia gesetzt: einen Eismenschen, der schmelzend das Zeitliche segnete.
Streetart ist etwas ganz anderes als "öffentliche Kunst", die oft in Form furchtbarer Skulpturen und tendenziell auf Ewigkeit hin angelegt besonders dazu dient, Raum zu füllen. Streetart funktioniert immer nur im Kontext des Ortes, der sie beherbergt: 1997 legte Spencer Tunick eine große Menge nackter Menschen auf den Times Square in New York. Das wäre auf der grünen Weide keine Kunst gewesen (sondern Esoterik), die zu einer intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand herausfordert.
Der weitaus größte Teil der Streetart ist dennoch Graffiti-Kunst. Die wurde bereits schlüssig als die moderne Version urzeitlicher Höhlenmalerei bezeichnet, ist aber immer noch vor allem das Resultat des anarchischen Bestrebens, Raum zu erobern. "Kunst" ist das nicht immer, was da entsteht; die "Smileys" des Hamburger Sprayers OZ, die tausendfach in der Stadt verstreut wurden, passen jedenfalls eher in den Bereich der Stadtguerilla-Streifzüge.
Die Bemächtigung von Stadtfläche als Ziel der Sprayer - die manchmal lediglich Tags, die Kürzel des Urhebers, hinterlassen - ist eine ebenso banale wie zwingende psychologische Deutung. Sie gehört zu einer kulturwissenschaftlichen Annahme: dass die Sozialfigur des Straßenkünstlers die Kommunikation der Großstädter befruchten will. Der Sprayer ist unabhängig, das unterscheidet seine Slogans von denen der Werbung. Sein Beitrag zum gesellschaftlichen Zeichensystem folgt anderen als kommerziellen Gesetzen. Weil Streetart grundsätzlich von jedem wahrgenommen werden kann, ist sie ein Massenphänomen wie die Werbetafel. Diesem Umstand verdankt sich ihre Nähe zur Popkultur.
Shepard Faireys Obama-Bild von 2008 wurde im Wahlkampf rasend schnell zu einer Ikone der Gegenwart, von bestechender Einfachheit ist Faireys Äußerung im Interview in "Beyond The Street": "Ich kriege den Kick eher, wenn ich meine Arbeiten auf der Straße und nicht in der Galerie sehe. Jeder sieht sie auf der Straße, nicht jeder geht in die Galerie." Weil Straßenkünstler "modern" sind, lud die Tate Modern in London sechs von ihnen im Jahr 2008 ein, die Fassade des Museums zu gestalten: Streetart ist im doppelten Sinne museal geworden - welche Kunstform kann das von sich behaupten?
Der französische Schablonengraffiti-Pionier Blek le Rat betrachtet den aktuellen Hype um die Streetart nüchtern: "Man sieht, wenn man die Kunstgeschichte betrachtet, dass die Kunstwelt immer erst dann eine neue Bewegung akzeptiert, wenn diese fast an ihr Ende gekommen ist." Man mag nicht so recht daran glauben, wenn man die Ästhetik von Zeichnungen, die in Verbindung mir aushäusiger Umgebung ihre Kraft entfalten, als zeitlos begreift: Auf der Ebene der politischen und gesellschaftlichen Aussage aktualisiert sich Streetart permanent selbst (und ist dabei vergänglich wie keine andere).
Kunstwerke wie SpYs Blätterteppich, den er auf einem Basketballplatz in Madrid ausbreitete (es ist dort wohl längst nicht so windig wie in Hamburg), oder die liebevoll gestalteten Miniaturfiguren des Londoners Slinkachu können, simpel gesprochen, die Hast durch den Großstadtdschungel zu einer sinnlichen Sensation machen, wenn man nicht blind an ihr vorbeirauscht.
Und das Beste: Slinkachus Figürchen, die auf dem Rand einer Bierdose sitzen oder im Miniboot durch eine Pfütze paddeln, darf der mitnehmen, der sie als Erstes sieht.
Man muss sie nur finden.
Trespass. Die Geschichte der urbanen Kunst. Taschen Verlag. 318 S., 29,90 Euro
Beyond The Street. The 100 Leading Figures in Urban Art. Gestalten Verlag. 400 S., 48 Euro