Hamburg. Ein verwegenes Glissando, Tempo und ein insgesamt phänomenaler Auftritt: Die Geigerin brachte die Elbphilharmonie zum Rasen.
Hilfe, was ist das? In der allerersten Phrase eines langsamen Bach-Satzes verschleift die Sologeige zwei Halbtöne so demonstrativ, dass man aufspringen und die Flucht ergreifen möchte. Ein Glissando bei Bach! Das ist ein körperlicher Angriff.
Und natürlich volle Absicht. Anne Sophie Mutterist in der Stadt. Die Frau, die alles kann, was sie anpackt, und alles macht, wie sie es will. Mutters Geigenspiel hat keine Grenzen, immer wieder setzt sie ihre Prominenz ein, um ihre Stimme für die gute Sache zu erheben, ihre Stiftung fördert junge Musiker.
Mit einigen ihrer Stipendiaten und Stipendiatinnen ist sie an diesem Abend in der Elbphilharmonie zu Gast. Mutter’s Virtuosi nennen sie sich, hinreißend begabte Instrumentalisten, alle dezent in Schwarz, während die Chefin ein schulterfreies, signalmagentafarbenes Kleid trägt.
Elbphilharmonie: Anne-Sophie Mutter – los geht’s mit Vivaldi
Barocke Concerti stehen auf dem Programm und ein Kammermusikwerk aus unserem Jahrtausend. Die Musiker wechseln für die unterschiedlichen Besetzungen locker durch. Los geht’s mit einem Konzert für drei Sologeigen von Vivaldi. Über den Komponisten soll sein Kollege Strawinsky gesagt haben, er habe nur ein Violinkonzert geschrieben, das aber 500-mal.
Nun, das F-Dur-Konzert RV 551 kann er nicht gemeint haben. Auch in diesem Werk macht Vivaldi mit den allerbescheidensten Mitteln Musik von einzigartiger atmosphärischer Dichte. Wie er den drei Solostimmen abwechselnd gebrochene Akkorde, Begleitpizzicati und Gesangslinien zuweist, das ist hochinteressant gemacht.
Anne-Sophie Mutter in der Elbphilharmonie: Tempo als der wichtigste Parameter
Die Persönlichkeiten treten dabei deutlich hervor. Dabei fällt vor allem das ausstrahlungsstarke und nuancierte Spiel von Elias David Moncado auf. Mutters Stil ist wie immer geprägt von Perfektion und einer Gestaltungsweise, die nur ihren eigenen Gesetzen folgt.
Im a-Moll-Violinkonzert von Bach setzt sie mal ein heftiges Vibrato ein und spielt mal ganz fahle, durchdringende Töne. Eine Motivation aus der Logik der Musik heraus ist oft nicht zu hören.
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Wie so oft bei Mutters Auftritten scheint der wichtigste Parameter das Tempo zu sein. Nicht irgendeines, sondern das schnellstmögliche. Ob das Ohr der Zuhörer noch folgen kann, ob kleine Figuren im Getriebe untergehen, darauf kommt es offenbar nicht an. Manchmal kommen Akzente heraus, die eher der Bogentechnik geschuldet sind als der musikalischen Linie.
Elbphilharmonie: Phänomenal, wie Anne-Sophie Mutter auswendig spielt
Das Zusammenspiel der Gruppe ist ein Genuss. Farben, Artikulation, Übergänge, alles machen sie mit. André Previns Nonett für zwei Streichquartette und Kontrabass aus dem Jahre 2015 ist ein geistreicher Spaß, der jedem und jeder Beteiligten eine Plattform bietet. Impressionistisch flirrende Klanggewebe, melancholisch-spätromantisch-samtschwere Bratschenpassagen und ausgedehnte Kontrabass-Soli, alles hat Platz in Previns Universum.
An den Schluss hat Mutter eine echte Trouvaille gesetzt: das Violinkonzert A-Dur von Joseph Bologne, Chevalier de Saint Georges, Sohn einer Sklavin aus Guadeloupe, der in Paris eine brillante Karriere hinlegte. Das Werk zeugt von Bolognes himmelhoher geigerischer Virtuosität.
Mit seiner Anmut, seinem Witz und der robusten orientalischen Einlage im dritten Satz erinnert es von ferne an das A-Dur-Konzert seines Zeitgenossen Mozart. Mutter spielt auch das auswendig, allein das ist phänomenal. Das Publikum rast.
Ein Gute-Laune-Abend. Im Kopf der Rezensentin hinterlässt er ein Knäuel aus Tausenden Noten. Ein paar weniger hätten es auch getan.