Hamburg. Atemberaubender Abend beim Nordlied Festival mit der Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter – und eine aufregende Mischung.

Mein Kopf ist ein Musikinstrument. Die Klangkünstlerin Dimitra Maria Pavlou spielt auf ihm „Shh 1“ von Yiran Zhao. Ihre Hände umrunden meinen Kopf und klopfen sanft auf meine Ohren, sie streichen über den oberen Rand meiner Ohrmuscheln, oder Pavlou reibt – schneller und kräftiger werdend – eine Stelle meines Scheitels. Es fühlt sich an, als würden sich alle meine Nervenenden nach außen stülpen.

Nichts ist normal an diesem Abend im Kleinen Saal der Elbphilharmonie. Das Nordlied Festival bittet zu seinem Flaggschiffkonzert: Die schwedische Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter, Schirmherrin des Festivals und seit Jahrzehnten ein Fixstern am Gesangshimmel, gibt ein Programm rund um das Motto „Love, Sex & Identity“.

Konzert Hamburg: Liebe, Sex und Tabubrüche in der Elbphilharmonie

Aus dem Füllhorn quellen Lieder, Arien, Chansons und Texte von Mozart und Hanns Eisler, Shakespeare und Mircea Cărtărescu, aber auch von Komponistinnen wie Sofie Livebrant (geboren 1971) oder Elisabeth Sargent (1930–2017).

Otter hat das Programm mit ihren künstlerischen Weggefährten, dem Schauspieler Graham F. Valentine, dem Gitarristen Fabian Fredriksson und dem Pianisten Bendix Dethleffsen, entwickelt. Aufregende Mischung. Liebe gehört schließlich zu jedem handelsüblichen Liederabend, „Sex vielleicht nicht so viel“, wie La Otter eingangs in fast perfektem Deutsch erklärt, „heute Abend desto mehr“.

Stellenweise geht es denn auch so explizit zu, dass nichts ahnende Anhänger des guten alten Liederabends in Ohnmacht fallen könnten. Primäre Geschlechtsorgane kommen in den präzisesten Schilderungen vor, ob in dem traditionellen englischen Liedchen „Una’s Lock“ als „rote Lippen, übersät mit tiefschwarzem, lockigem Haar“ oder in Elfriede Jelineks „Lust“ als männliche „Kaldaunen“. Homo- und heterosexuelle Begegnungen gehen fließend ineinander über, es geht um Knabenliebe und krasse Altersunterschiede.

Atemberaubend wird das Ganze durch die Interpreten

Aber das ist ja noch gar nichts. Dass auch Tote Gegenstand des Begehrens sein können wie in „I Fell In Love With A Dead Boy“ aus der Feder der 1971 geborenen Anohni, ist sicherlich ein Tabubruch. Auch Charles Beaudelaire spielt damit in seinem Skandalzyklus „Blumen des Bösen“, aus dem zwei Gedichte in Vertonungen erklingen.

Wirklich atemberaubend wird das Ganze durch Interpreten und Interpretinnen. Das Timbre der inzwischen 68-jährigen Otter ist leicht verschleiert, aber es leuchtet immer noch. Perfekt und organisch zugleich wirkt ihre Tongestaltung, und stilistisch ist sie gleichermaßen überzeugend, ob sie in Schumanns Tiefen lotet oder sich eine Prise augenzwinkernden Salon-Schwungs erlaubt.

Valentine wiederum rezitiert und deklamiert die unverschämtesten, aber auch herzzerreißendsten Texte mit Pokerface. Und wenn er singt und dabei hemmungslos kräht, möchte man zugleich lachen und heulen. In dieser Fallhöhe ist das ganze Leben enthalten.

Gegen Ende zieht sich die Sache etwas. Etwas weniger von all dem grandios Intelligenten, Komischen, Erschütternden wäre mehr gewesen. Was etwa die Zhao-Klanginstallation zum Thema beizutragen hatte, wird nicht so ganz klar. In meiner Hosentasche finde ich später die Ohrstöpsel aus Schaumstoff, die mir Dimitra Maria Pavlou gegeben hatte. Sie waren Teil der Komposition, fielen mir aber gleich aus den Ohren. Wäre doch schade gewesen, wenn ich auch nur ein Phon verpasst hätte.