Bremen. Das Festival in der Hansestadt hat mit der „Großen Nachtmusik“ eröffnet. Auch Pianist Michael Wollny und Christian Brückner wirken mit.
Je weiter Christian Brückner und Michael Wollny fortschreiten auf ihrem Schmerzensweg, desto heller wird es, desto deutlicher wird das Summen hörbar, das von draußen hereindringt. Der Festsaal der Bremischen Bürgerschaft scheint über dem Marktplatz zu schweben, seine riesigen Glasfronten öffnen sich in Richtung der historischen Gebäude. Von gegenüber dringt Sonnenlicht durch das tropisch-dumpfe Weiß. Allmählich bevölkert sich der Platz.
Es ist „Große Nachtmusik“, die Eröffnungssause des Musikfests Bremen. Alljährlich öffnet der Intendant Thomas Albert eine Art klingende Pralinenschachtel. Das Publikum kann aus 21 Kurzkonzerten wählen, die zu drei Uhrzeiten im und um das prächtige Rathaus stattfinden. Das Angebot reicht von Alter Musik über Sinfonisches bis zu Soul und Jazz.
Musikfest Bremen: 21 Kurzkonzerte an drei verschiedenen Uhrzeiten
Der Schauspieler Christian Brückner und der Jazzpianist Michael Wollny haben sich „Heinrich Heine: Traumbilder“ vorgenommen. „Lyrik und freie Improvisation“ lautet der Untertitel. Brückner rezitiert, und Wollny spielt, so weit, so normal. Aber was dabei herauskommt, trifft ins Herz, weil es etwas Drittes ist. Anders als Wollny hat Brückner einen Text, der ihn bindet.
Doch wie er sich Heines zärtlichen, zornigen, beißend ironischen oder auch verzweifelten Zeilen ausliefert, was er unter ihrer Oberfläche findet und wie sehr er mit seiner rauen Stimme auf das eingeht, was von Wollny kommt, das ist so sensibel aus dem Moment heraus empfunden, dass es selbst wie eine Improvisation wirkt.
„Deutschland – Ein Wintermärchen“: Wollnys Tirade am Klavier beantwortet Brückner mit Wortsalven
Wollnys Klavierspiel eröffnet einen enormen Resonanzraum. In so manchem Kopf dürften als zweite Tonspur die Lieder mitlaufen, die Robert Schumann auf Gedichte Heines komponiert hat, allen voran der Zyklus „Dichterliebe“. Mal erinnern Wollnys Basslinien entfernt an Schubert, dann wieder zupft der Pianist naturhafte Klänge aus den Saiten des Flügels. Wenn Heine in „Deutschland – Ein Wintermärchen“ die politischen Repressionen Mitte des 19. Jahrhunderts geißelt, feuert das Klavier eine regelrechte Tirade ab, auf die Brückner mit Wortsalven antwortet.
Am Schluss erlischt in „Der Vorhang fällt, das Stück ist aus“ eine letzte Lampe zu einem langen Diminuendo am Klavier. „Das arme Licht war meine Seele“, sagt Brückner stockend, fast staunend. Und der Reporterin läuft ein Schauder über den Rücken.
Vom Werder-Selbstverständnis kann das Musikfest Bremen nur träumen
Es ist ein harter Schnitt, nach dieser Seelenreise auf dem Marktplatz die robuste Fröhlichkeit zu spüren und Bratwurstrauchschwaden zu riechen. Aber solche Kontraste sind beabsichtigt. Das Musikfest will gerade nicht im Elfenbeinturm bleiben. Was angesichts des kompromisslos ambitionierten Programms einen gewissen Spagat darstellen dürfte.
Am Vorabend war der FC Bayern zu Gast bei Werder. Das ging zwar nicht gut aus für Bremen (0:4, um genau zu sein), trotzdem ist der Fußball mit einer Fraglosigkeit Teil des hanseatischen Selbstverständnisses, von dem ein Festival für (überwiegend) klassische Musik auch im vierten Jahrzehnt seines Bestehens nur träumen kann. Das Musikfest mag ein Leuchtturm im Kulturleben der Stadt und weit darüber hinaus sein, Thomas Albert darf dennoch nie darin nachlassen, zu netzwerken, Sponsoren zu umwerben und an Kooperationen mit den umliegenden Kommunen und Landkreisen zu arbeiten.
Koloratursopranistin Anna-Lena Elbert – urkomisch und sarkastisch
In der Glocke, dem ehrwürdigen Konzertsaal, gibt das Budapest Festival Orchestra unter seinem Chefdirigenten Iván Fischer ein Programm, das sich in wechselnden Kleinbesetzungen über mehrere Jahrhunderte erstreckt. Leider wollen Monteverdis „Scherzi musicali“ nicht wirklich abheben, dazu klingen sie nicht kohärent und sauber genug.
Ganz anders die „Mysteries of the Macabre“, eine Art Medley aus Ligetis Oper „Le grand Macabre“. Die Koloratursopranistin Anna-Lena Elbert tobt und schleicht und kreischt durch ihren Part und hält ihre Spitzentöne in einer Lautstärke und Dauer, dass man sie für ihre darstellerischen und stimmlichen Fähigkeiten nur bewundern kann. Urkomisch ist das Ganze und zugleich so sarkastisch, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Das Orchester ist in seinem Element und allezeit im Dialog mit der Solistin, ob Holzbläser, Xylofon oder Trillerpfeife.
Musikfest Bremen; Installation von Christian Weißkircher erleuchtet Renaissance-Fassaden
Vielleicht nicht Weltspitze, aber persönlich musiziert sind die Klezmer-Nummern und die spontan zugegebenen rumänischen Volkstänze. Fischer sitzt derweil im Hintergrund und hört sichtlich aufmerksam zu. Der Zusammenhalt in diesem Orchester ist immer wieder berührend zu erleben.
Draußen ist es dunkel geworden. Die Installation des Lichtkünstlers Christian Weißkircher erleuchtet die gotischen und Renaissance-Fassaden und lässt üppige Details plastisch hervortreten. An den Ständen trinkt man Wein, dazwischen hockt ein Grüppchen junger Leute und macht seine eigene Musik mit Cajón und Gitarre.
- Tocotronic im Stadtpark - Vier Männer wissen, was sie tun
- Feine Sahne Fischfilet - „Monchi“ holt Eltern auf die Bühne
- Daniel Hope beeindruckt mit Britten, Eschenbach mit Bruckner
Gleich nebenan, im Dom St. Petri, singen und spielen die Sänger und Instrumentalisten von Vox Luminis französische Barockmusik von Rameau und Charpentier. Der Bass Lionel Meunier lädt sie eher zum gemeinsamen Atmen ein, als dass er sie dirigieren würde. So entstehen all die Klangfarben und imaginären Szenen gleichsam von selbst. Schon das Paukensolo, das das Präludium zu Charpentiers „Te Deum“ einleitet (früher mal bekannt als Eurovisions-Jingle), ist ein durch und durch körperliches Erlebnis. Fänden die jungen Menschen vom Marktplatz ihren Weg zu diesem Konzert, Momente wie dieser würden auch sie begeistern.
Als das Konzert zu Ende ist und mit ihm die „Große Nachtmusik“, da sind sie nicht mehr da. Das Klassik-Publikum strebt heimwärts, der Marktplatz leert sich. Das Rathaus und seine Nachbarn aber leuchten noch. Das Musikfest hat schließlich gerade erst begonnen.
Musikfest Bremen bis 9.9., Programm und Karten: https://www.musikfest-bremen.de/start/