Hamburg. Die Hamburger Spaßpop-Institution tobte mit Style-Rodeo beim Heimspiel bis zur Erschöpfung. Bier gab’s aber nicht für jeden.

Das Sender-Empfänger-Modell funktioniert bei Bier-Happenings dieser Band völlig easy. Störungsanfälligkeit: null. Bei Deichkind darf man auf Songs wie „99 Bierkanister“ bauen, da heißt es dann erst einmal: „Achtung, alle Hände hoch!“ Wird immer gemacht. So auch hier.

Die Trabrennbahn brummte beim zweiten, wieder ausverkauften Sommer-Open-Air in Hamburg. 25.000 Leute da, alle ab Song eins – eben der mit den Bierkanistern – unbedingt eskalierbereit. Hey, Deichkind ist eine der besten Performancebands des Planeten, in jedem Fall die komischste. Die behämmertste!

Was fraglos als Kompliment zu verstehen ist. Am Freitagabend hatten die Kölner Alltagsromantik-All-Stars AnnenMayKantereit die Bahrenfelder Spielfläche vorgewärmt. Am Sonnabendabend dann brannte Deichkind eine Show in den Heimatboden, die es – erwartbar – in sich hatte. An diesem lauen Spätsommerabend, bei dem vor Konzertbeginn noch die Sonne den Besucherinnen und Besuchern auf die stolzen Häupter schien.

Deichkind in Hamburg: Ballermann-Feuilleton im Popmusik-Gewand

Stolz deswegen, weil Deichkind-Fans wissen, dass sie zur subtil-knalligsten Band deutscher Zunge pilgern. Deren Codes muss man zu deuten wissen, die Lines zu dechiffrieren. Voll intellektuell, Digger! Man geht zum Ballermann-Feuilleton in Popmusik-Gewand, zur Gaudi-Guerilla Hamburger Prägung. Deichkind-Fans sind anspruchsvoll, wollen aber abgehen wie beim Schützenfest.

„Alder, Opa hat Gänsehaut“, rief Sebastian „Porky“ Dürre dem Publikum schon nach zwei Liedern zu. Er war halt: „Endlich wieder zuuuu Hauuuuseee“. Das hatte man übrigens auch beim Einlass feststellen können. Am Gästelistencounter stand gefühlt halb Bergedorf an. Aber eine Ansage wie „Lasst uns heute verschmelzen, Hamburg und Deichkind, wir gehören zusammen!“ zielte auch auf den gesellschaftlich-utopischen Raum jenseits lokaler Gefühligkeiten.

So war es auf der Trabrennbahn: Es wurde wild gehopst, zum Beispiel bei „Wutboy“. Keine Ahnung, ob irgendeine oder -einer im Publikum bei der Elektro-Hip-Hop-Hochleistungsschau tatsächlich noch an die Turbo-Zeitdiagnostik von Philipp „Kryptic Joe“ Grütering und Sebastian „Porky“ Dürre dachte, körperlich am Abgehen waren jedenfalls gefühlt alle. Meta, Meta ist jedoch sicher gar nicht mehr so wichtig, wenn Superhits wie „So ’ne Musik“ und „Leider geil“ auf und vor der Bühne derbe abgefeiert werden.

Deichkind auf der Trabrennbahn: 25.000 – und viele „Kids in meinem Alter“

Als sprachspielende Witzfiguren verdoppelten die Musiker auch bei diesem Konzert ihre Magie. Figuren, die den einen Witz permanent erzählen, der immer nur wie ein Kalauer („Leitungswasser kommt mir nicht ins Haus“) klingt, aber auf der todernsten Mission ist, alle Klischees abzugreifen und zu eliminieren, die da draußen existieren.

Die Deichkind-Modenschau muss auch anstrengend sein.
Die Deichkind-Modenschau muss auch anstrengend sein. © Michael Rauhe

Die Bergedorf-Berliner Schlauestmeier im Rap-Diskurs hatten auch beim Hamburg-Konzert nie die Absicht, sich altersgemäß zu verhalten. Niemand wird hier je erwachsen, auch nicht im Publikum, wo alle „Kids in meinem Alter“ am Start waren. Manche waren schon 50, andere 30, manche sogar erst 10, circa.

Deichkind ist eine Mehr-Generationen-Angelegenheit, und in der Disziplin „Rumspringen auf Gedanken-Speed“ können sie alle was. Die Sonnenbrillenträger nach Sonnenuntergang, die Iron-Maiden-T-Shirt-Träger. Die im Poloshirt und die mit Tattoos. Die Eltern mit Wochenendfreigang. Die Freigeister und Powerhedonisten. Die Individualisten im Kollektiv, die Kiffer und die mit den Bierbechern. Sie alle: hatten den Hip-Hop-Schwenkarm im Sortiment.

Nach Grüterings Soloritt durch „Kids in meinem Alter“ („Kiffen mit Cis-Männern/Suchen die Challenge, wählen grün/Gock, Gock, Gock/Denken sie sind eine ganz besondere Blume in Gottes Garten“) wollte Bandkollege Dürr dann auch mal ein Kompliment aussprechen – „hat er gut gemacht, oder? Am Hansa-Gymnasium in Bergedorf war er ja eher durchschnittlich“. Nun, Tempi passati, heute reitet keiner den Reime-Rodeo so elegant wie Grütering bei „Auch im Bentley wird geweint“.

Deichkind in Hamburg: Keine Saufsignale mehr, ich bin am Limit!

Als krasses Liveerlebnis überzeugte Deichkind auch die in der letzten Reihe. Vielleicht mögen manche der mit der Band gealterten Menschen schon vor dem Konzert gedacht haben: Nee, lass mal heute, keine Saufsignale mehr, ich bin am Limit! (Vielleicht auch nicht.) Vom durchgestylten Auftritt Deichkinds musste man sich unbedingt beeindrucken lassen, ob nüchtern oder nicht – es waren lässig präsentierte Schauwerte, die sich dem Publikum darboten. Tanz und Gloria.

Bei „Hört die Signale“ gab es übrigens tatsächlich eine „The Power of Love“-Einspielung. Bier ist Liebe? Bestimmt. Besonders, als ausgerechnet jetzt der Regen einsetzte. „In Hamburg bleibt man gefälligst da, wenn’s zu pissen anfängt!“, das war die Ansage von der Bühne.

Aber ja. Wir blieben da, für den glorreichen Rest der ganzen Chose. Deichkind als Amüsierpark für Leute, die Energieüberschuss haben: Die Beats-basierte Show war auch ein Fest der Awareness-Gegenwart, wo niemand auf die Idee kam, der Nebenfrau bei Stücken wie „Remmidemmi“ entfesselt ins Gesicht zu springen. Man wusste immer, was man tat, und goutierte bei „Roll das Fass rein“ die „Kein Bier für Nazis“-Flagge über alle Maßen.

Deichkind auf der Trabrennbahn: Das Bierfass sah man kommen

Das Fass und das Schlauchboot, etatmäßige Requisiten bei Deichkind-Konzerten, sah man natürlich kommen – und dann kamen sie auch. Alles andere wäre eine Enttäuschung gewesen.

Man sollte nie unterschätzen, wie verausgabend ein zweistündiges Deichkind-Delirium ist. Vor allem für die, die versuchen, das Verweissystem hinter den tumben Slogans immer und immer wieder zu knacken. Auf den Leinwänden und auf der Bühne war ja auch etwas geboten, man hätte es schon viel früher erwähnen müssen.

Deichkind auf der Trabrennbahn Bahrenfeld: Schwenkarme, Kostümierungen, Bier.
Deichkind auf der Trabrennbahn Bahrenfeld: Schwenkarme, Kostümierungen, Bier. © Michael Rauhe

Wer die Videoclips der Band kennt, weiß, wie viel Bock sie auf den visuellen Aspekt hat. Sah manchmal schwer nach Rothko aus im Bühnenbild. Die Darbietung von Band und Tänzern (die zylindrischen Kopfbedeckungen!) changierte wie gewohnt zwischen Ballett und Theater, jedenfalls innerhalb Hochkulturgemarkung. Choreografien fürs Partyvolk. Von ausschließlich mittelalten Männern und nahezu alle von ihnen weiß. Apropos: Roger Rekless ist als dritter Rapper im Deichkind-Kosmos gut unterwegs, man weiß das spätestens seit „In der Natur“.

Deichkinds Ansage an den alten weißen Mann

Totale männliche Bühnenpräsenz muss ein in purer politischer Absicht ins Publikum gerufenes „Schluss jetzt, Opa, alter weißer Mann, ab zum Rasenmähen“ nicht ausschließen. Deichkind und der Zeitgeist, gar nicht verkehrt, vor allem als dann auch mal kurz die Sprache auf Donald Trump und seinen Mugshot kam.

Die semantische Schnitzeljagd (wer denn an diesem Abend Bock drauf hatte) durfte vor den modischen Gags der Künstler nicht haltmachen. Aber Himmel, diese Hüte, Helme, Brillen – wie anstrengend muss es bitte sein, die aufzutragen? Und vor allem: die ständigen Kostümwechsel. Jede Verkleidung eine Message, jede textile Aufplusterung kein Soufflé. Eher geistige und körperliche Deichkinderarbeit, in diesem Fall musste man sich nicht ans Jugendamt wenden.