Hamburg. 60.000 Menschen kommen an Wochenende nach Wilhelmsburg. Band Giant Rooks gibt prominenter Hamburgerin fünf Minuten – Festival bleibt.

„Mama, mir geht‘s gut!“, steht auf dem Pappschild, das eine junge, strahlende Frau in Händen hält. Es ist eine von vielen Botschaften beim diesjährigen Festival MS Dockville. Die einen wollen sich hier Gehör verschaffen, andere möchten gesehen werden. In möglichst bunten, fantasievollen Kostümen und mit viel Glitzerschminke auf den Gesichtern.

Dort hält eine junge Frau ihre Clique im Gedränge der mehr als 60.000 Anwesenden mit emporgehaltenen Plastikgiraffen zusammen. Neben ihr probieren es andere mit Luftballons in Gestalt von Quallen, Delfinen oder Drachen

Dockville-Festival in Wilhelmsburg: Die Songs von Giant Rooks können es mit jedem internationalen Gitarren-Top-Act aufnehmen.
Dockville-Festival in Wilhelmsburg: Die Songs von Giant Rooks können es mit jedem internationalen Gitarren-Top-Act aufnehmen. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Kunstschaffende haben ja ohnehin ein gewisses Sendungsbewusstsein. Beim diesjährigen, dem 15. MS Dockville in Hamburg-Wilhelmsburg, hagelt es Liebeserklärungen der Bands an die besondere Atmosphäre an der Elbe. Ernstere Themen treiben da die US-Rapperin 070 Shake am Freitagabend um. „Wir werden alle sterben“, sagt sie. „Denkt immer daran. Bei jeder Entscheidung, die Ihr für die Zukunft trefft.“

Endlichkeit dürfte für das Gros des überwiegend jungen U-35-Publikums noch eine eher abstrakte Größe sein. Hier geht es um das gemeinsame Eintauchen in die Musik, eine Art Schweben auf einer Woge des Glücks mit vielen Gleichgesinnten – und auch eine in bunten Farben glitzernde Feier der Lebensfreude.

MS-Dockville-Festival: „Fridays for Future“ wirbt für Klimastreik

Diese Stimmung nutzt auch Annika Rittmann, Aktivistin von „Fridays for Future“, um vor dem Auftritt der Band Giant Rooks für ihre Sache zu werben, den globalen Klimastreik am 15. September. „Lasst uns gemeinsam weitermachen. Wir feiern die geilere Party als das jetzige System“, gibt sie sich kämpferisch. Danach verströmt die fünfköpfige Band Giant Rooks aus Hamm in Songs wie „Heat Up“ oder dem neuen „For You“ so viel positive Indie-Euphorie, dass man geneigt ist, an einen Aufschub der Apokalypse zu glauben.

Rittmanns Auftritt ist klug gewählt, zählt das Musik- und Kunstfestival doch seit Jahren zu jenen, die mit dem Format experimentieren, es bis ins Detail ernst meinen mit Veränderung, mit Nachhaltigkeit, Diversität und Integration. Die Food-Trucks servieren vielfach vegetarisches und veganes Essen. Weithin sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Awareness-Team in ihrer rosafarbenen Kluft zu erkennen.

Beim MS Dockville geht es natürlich um Musik - aber auch um Kunst. Und auch tagsüber hält das mit Industrieansichten glänzende Gelände an der Elbe viele Überraschungen bereit. In einer Ecke werden T-Shirts mit Pflanzenfarben verschönert. Die Rave Aerobic gerät ungewollt zum Stummfilm – das Mikrofon versagt. Macht aber nichts. Die Menge im Tentakel-Zelt streckt und dehnt die Glieder trotzdem.

Knustspaziergänge hier, hoher Frauenanteil unter 180 Bands

Constanze Wallenstein erläutert auf einem der vielen Kunstspaziergänge über das Gelände viele kluge Hintergründe. Zum Beispiel über die wohl meistfotografierte Skulptur „Human Habitat“ von Nadine Baldow, eine Ansammlung von werthaltigem Hamburger Schrott, einem Auto, einer Waschmaschine, einer Badewanne, die aber unter Unmengen versprühten, pinkfarbenen Bauschaums verschwinden. Ein echter Hingucker und ökologisches Mahnmal zugleich.

Mindestens ebenso häufig fotografieren sich Besucherinnen und Besucher vor dem nachts grünlich glitzernden und unheimlich vor sich hin dampfenden Werk „I Everybody’s Darling“, einem mit Spiegelsplittern überzogenen Auto, der Künstlerin Sasha Gold am oberen Ende des Geländes am Reiherstieg-Hauptdeich.

Auftakt des Dockville-Festivals in Hamburg-Wilhelmsburg bei bestem Wetter und bester Stimmung.
Auftakt des Dockville-Festivals in Hamburg-Wilhelmsburg bei bestem Wetter und bester Stimmung. © Marcelo Hernandez

Das Musikprogramm präsentiert sich divers und mit erfreulich hohem Frauenanteil. Unter den etwa 180 Bands, die auf mehr als zwölf großen und kleineren Bühnen auftreten, findet sich so manche Entdeckung. Die schon erwähnte 070 Shake auf der Vorschot-Bühne betört mit dunklem Hip-Hop-Gesang, anspruchsvollen Texten und kreativen Visuals.

Stunden zuvor hat bereits die französische Band L’Impératrice mit ihrem gut gelaunten Electro-Pop – und blinkenden Herzchen am Kostüm - die Menge vor dem Großschot ordentlich zum Tanzen gebracht. Ihre Songs tragen Titel wie „Hématome“ oder „La Lune“. Sängerin Flore Benguigui verbreitet einen zarten Hauchgesang wie die dauerrauchenden Diseusen Jane Birkin und Françoise Hardy, während die Band hinter ihr psychedelisch anmutende Retro-Synthesizer-Melodien übereinanderschichtet.

Blond, ein Indie-Pop-Trio aus Chemnitz, versprüht NDW-Romantik

Am Sonnabend führt das Trio Zimmer90 vor, wie man auch zu zweit über Tasteninstrumente gebeugt, verstärkt von einem Schlagzeug, die Massen vor dem Großschot begeistern kann. Mit hinreißenden Electro-Sounds und einem an die Tanz-Experten von Hot Chip erinnernden Gesang. Das schafft auch Blond auf dem Vorschot. Mit direkt nach vorne gehenden Texten und ein wenig NDW-Romantik versprüht das Indie-Pop-Trio aus Chemnitz mit lebensnahen Texten über Schulhoferlebnisse und Songs wie „Durch Die Nacht“ jede Menge gute Laune. „Meine Güte, Moshpit schon beim ersten Song!“, freut sich Sängerin Nina Kummer über Tanzwütige vor der Bühne.

Die Besucherströme wogen nur so hin und her von einem Auftritt zum nächsten. Ein paar Regentropfen verdampfen schnell.

Persönliche Botschaften hat Pop--Sänger Schmyt, ehemals Teil der Berliner Band Rakede, zu verkünden. Von ihm erhält die Menge Tipps, wie man schlechte Gefühle loslässt. Lieder wie „Sternenstaub“ oder „Medusa“ singt die wogende Menge textsicher mit. Schmyt versteht sich auf eine Mischung aus lakonischer Poesie, gekreuzt mit nachtblauer Melancholie und zwischen Hip-Hop und Pop wandelnden Melodien. Die Texte zielen direkt ins Herz – ohne das Pathos zu sehr zu strapazieren.

Sängerin Flore Benguigui der Band L’Impératrice beim Dockville-Festival in Hamburg.
Sängerin Flore Benguigui der Band L’Impératrice beim Dockville-Festival in Hamburg. © Marcelo Hernandez

Die israelische Songwriterin Noga Erez verbindet auf der Vorschot-Bühne elektronische Klänge mit häufig politisch gefärbtem Hop-Hop-Gesang. Zu ihrem ersten Song „End of the Road“ stiftet sie gleich die Menge zum fröhlichen Publikums-Chor an.

Höhepunkt am späten Sonnabend ist der Auftritt der mit vielen Kritikerlorbeeren bedachten norwegischen Band Girl in Red. Mit etwas Verspätung – das Lichtdesign spielt nicht mit – rennt und springt Sängerin Marie Ulven Ringheim in Jeans und T-Shirt über die Großschot-Bühne. „You Stupid Bitch“ erklingt als kraftvolles Liebesschmerz-Lied, von Anfang an pure mitreißende Energie. Die charismatische Songwriterin singt wie keine Zweite von großen Emotionen – häufig von gleichgeschlechtlicher Liebe. Und sie kommuniziert gern und ausgiebig mit der Menge: „Ich liebe euch auch!“

MS Dockville: Vertrag über Nutzung des Geländes bis 2028 verlängert

Einige Besucher schauen sich auch gar keine Band an, sondern schütteln die Glieder bis zur totalen Erschöpfung auf einer der vielen Tanzflächen vom Techno-Gewitter im Nest bis zum winzigen Rave-Club auf dem verwinkelten, vielfarbig erleuchteten Gelände. Das MS Dockville – es ist auch ein magischer Ort der Utopien.

Und für alle, die davon nicht genug bekommen können, gibt es bereits jetzt gute Nachrichten: Die veranstaltende Kopf und Steine GmbH und die Hamburg Port Authority (HPA) haben den Vertrag über die Nutzung des Geländes bereits bis 2028 verlängert. Damit dürfte die Geschichte des MS Dockville auch in den nächsten Jahren weitergehen.