Hamburg. Premiere von Florentina Holzingers „Ophelia’s Got Talent“: Ein Stück an der Schmerzgrenze – auch für das Publikum im Saal.

Florentina Holzinger ist ein echtes Kampnagel-Gewächs: Hier zeigte sie ihre ersten Duo-Arbeiten in kleinen Hallen. Doch seither ist viel geschehen. Die Österreicherin ist derzeit die angesagteste Choreografin im deutschsprachigen Raum. Sie kann all ihre Bühnen-Träume verwirklichen – und die sind gewaltig, ausladend, grenzüberschreitend und technisch überaus anspruchsvoll.

Theater Hamburg: Radikal-Performance bis zur Kreislaufschwäche

Jüngstes Beispiel und bisheriger Höhepunkt: „Ophelia’s Got Talent“. Der Volksbühne-Hit aus Berlin ist nun, nach Einladung zum Theatertreffen und Auszeichnung als „Inszenierung des Jahres“ durch das Fachmagazin „Tanz“, endlich beim koproduzierenden Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel angekommen. Die Vorstellungen sind natürlich ausverkauft.

Nach der Ballett-Dekonstruktion „Tanz“ und dem höllischen Dante-Ritt „A Divine Comedy“ nimmt sich Holzinger erneut eine Figur des klassischen Kanons vor, die Ophelia-Figur aus Shakespeares „Hamlet“, um sie in einem sehr freien Kaleidoskop durch ein Wasserspektakel zu jagen – und dabei tanzhistorisch doch tief einzutauchen in den Mythos von der Frau, die angeblich am schönsten ist, wenn sie tot im Wasser liegt.

Kampnagel-Premiere: Entfesselung in kleinem Wassertank geht beinahe schief

In Nikola Kneževićs Bühnenbild gruppiert sich erst, moderiert von einem frechen, trinkfreudigen weiblichen „Käpt‘n Hook“, ein fernsehreifes – natürlich textilfreies – Jurorinnen-Trio zu einer Talentshow. In der Mitte dominiert ein Swimmingpool, hinten ruht ein mit Wasser gefüllter Tank wie ein überdimensionaler Sarg. Inga Busch, Renée Copraij und Saioa Alvarez Ruiz beäugen mit kritischem Blick Darbietungen: Schwert schlucken, Schlager singen, Seil-Artistik. Eine Houdini-Entfesselung in einem kleinen Wassertank geht beinahe schief. Dieser Part ist als Kommentar zu TV-Shows und Körpernormen unterhaltsam, manchmal grenzwertig, aber häufig auch sehr, sehr komisch.

Auf einmal ist die Trash-Show vorbei. Das Ensemble wendet sich dem Pool und den Wasserwesen der Literatur- und Tanzgeschichte zu: Schillers „Taucher“ und Schuberts „Forelle“. Tanz-Referenzen tauchen auf – von Jules Perrots „Ondine“ bis zu John Neumeiers „Little Mermaid“. Häufig sind die Frauen darin Opfer – und genau das drehen Holzinger und ihr Team hier mit athletischer Körperlichkeit um.

Sommerfestival: Angelhaken-Piercing-Szene ist nicht jedermanns Sache

Das Ensemble taucht dabei eindrucksvoll ein in das große Schwimmbecken, dessen Bahnen von einer Kamera auf zwei Leinwände gebannt werden. Bald erobern sich die Performerinnen auch das vor sich hin sprudelnde Sarg-Becken im Hintergrund. Starke Bilder reihen sich nicht immer sinnstiftend, aber atemlos aneinander.

Zugegeben, Holzingers Performances sind mit ihrem Mix aus Zirkus, Stunt und Selbstentblößung bei aller Ästhetik teilweise – etwa bei einer Angelhaken-Piercing-Szene – nicht jedermanns Sache. Bei einer Schwertschlucker-Nummer gibt es im Publikum eine erste Kreislaufschwäche in der Halle. Später folgt eine weitere. Wobei die früheren Produktionen noch deutlich drastischer ausfielen.

Holzinger offenbart auf Kampnagel-Bühne eigene präpubertäre Magersucht

Holzinger und ihr zwölfköpfiges Ensemble gehen in sportlicher Totalverausgabung und Selbstüberwindung an Schmerzgrenzen – eigene und die des Publikums. Allerdings nicht als Selbstzweck, sondern um kraftvoll von weiblicher Selbstbehauptung in der Gegenwart zu erzählen. So offenbart Holzinger selbst die eigene präpubertäre Magersucht. Bei einer anderen Performerin geht es um sexuellen Missbrauch.

Zum Ende hin werden die Bilder allerdings weniger originell. Eine Gruppe Kinder tritt als „Letzte Generation“ an. Ein Arsenal von Plastikflaschen ergießt sich in den Pool, der sich apokalyptisch blutrot färbt. Dem Tod geweihte Meerjungfrauen schleppen sich an Land. Auf einmal geht es um den prekären Zustand der Welt: die Dürren, die Wasserknappheit, die Verschmutzung der Weltmeere.

Theater Hamburg: Helikopter ohne Rotorblätter senkt sich vom Bühnenhimmel herab

Die Performerinnen tragen inzwischen – obenherum – Matrosenhemden, legen noch einen letzten Stepp-Tanz hin, singen launige Seemanns-Lieder und balgen sich bald – wie hypermännliche Machos – in einer lustigen Rauferei. Diese furchtlose Eroberung männlichen Rollenverhaltens hat etwas ungeheuer Befreiendes – und darin liegt noch immer die größte Faszination von Holzingers Kunst.

Das stärkste Bild in „Ophelia’s Got Talent“: Eben noch kämpft das Ensemble gegen den gewaltigen Sturm – eine Windmaschine – an. Da senkt sich schon ein Helikopter ohne Rotorblätter vom Bühnenhimmel in den Pool herab. Die Performerinnen erklimmen ihn, betanzen ihn erotisch und entschweben mit ihm in eindrucksvolle Höhe.

Diese Arbeit dürfte schwer zu übertreffen sein – auch für eine Florentina Holzinger.

Internationales Sommerfestival 2023 bis 27.8., Kampnagel, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de