Hamburg. Mit avantgardistischem Tanztheater begann das Sommerfestival auf Kampnagel. Der Kultursenator beschwor dessen politische Bedeutung.
Alle sind sie wieder da. Bei trockenem, vorsichtig freundlichem Wetter ist die Stimmung im Kampnagel-Garten anlässlich der Eröffnung des Internationalen Sommerfestivals 2023 bestens. Festivalchef András Siebold hat ohnehin allen Grund zu guter Laune, denn noch nie wurden vorab so viele Tickets verkauft.
Im Programm finden sich risikofreudige Newcomer ebenso wie langjährige Kunst-Komplizinnen und -Komplizen. Florentina Holzinger etwa, die einst auf Kampnagel mit Zwei-Personen-Abenden angefangen hat und nun in der großen Halle gigantische Spektakel entfesselt.
Tanzende Autos, heilsame Klänge: Sommerfestival auf Kampnagel eröffnet
In seiner Eröffnungsrede beschwört Kultursenator Carsten Brosda die Kraft von Kunst- und Kulturorten wie Kampnagel – auch gegenüber einem erstarkenden Rechtspopulismus. „Das sind Orte, an denen wir einander begegnen und miteinander gemeinsam Gesellschaft durch unser Beieinandersein schaffen können“, so Brosda. Aber: „Wir müssen dafür kämpfen, dass Gesellschaften unterschiedlich bleiben können.“
Wenn eine Bewegung, die Vielfalt ablehne und Europa sterben lassen wolle, aktuell 20 Prozent und mehr Zuspruch bekomme, sei das eine Aufgabe für all diejenigen, die Festivals wie das Sommerfestival auch künftig noch erleben wollten. „Das braucht beherzten Widerspruch bei jeder sich bietenden Gelegenheit“, so ein kämpferischer Brosda.
Angesichts einer krisenbehafteten Gegenwart sei die Zukunft für viele junge Menschen kein Versprechen mehr. Wichtiger aber als eine weitere „Lust an der Apokalypse“ sei es – auch beim Festival –, zu zeigen, dass Utopie möglich ist. „Gute Laune und Utopie sind das Subversivste, wozu wir momentan fähig sind“, so Brosda.
Ein im Innern skelettiertes Auto wird auf Kampnagel von Tänzerinnen und Tänzern erobert
Mit Spannung erwartet: die Eröffnungsproduktion in der großen Halle. Das Ballet National de Marseille unter seinem Leitungsteam (La) Horde lädt zu „Age of Content“ und ja, man ahnt bereits, dass es darin um moderne digitale und damit eher dystopische Welten geht.
Die Bühne sieht wie ein Hinterhof aus – samt Garagentor und Stahltreppe, davor ein Berg hingewürfelter Kartons. Ein im Innern skelettiertes Auto wird bald von Tänzerinnen und Tänzern in hellgrünen Overalls erobert und recht gewaltfreudig betanzt. Auch das Fahrzeug selbst wird mittels Hydrauliktechnik zum Tänzer. Mit lustigen Kipp- und Hüpfbewegungen wehrt sich die Maschine gegen den Menschen.
Nach diesem Intro beginnt eine weitere Erzählung. Mit ruckartigen, akkuraten Bewegungen und herausgestrecktem Hinterteil läuft eine Tänzerin wie ein Avatar aus einer – frühen – Computeranimation über die Bühne, trifft einen Partner oder Gegner, so genau weiß man das nicht.
Irgendwann stürmt das 20-köpfige Ensemble in bunten, neofuturistischen Kostümen durchs Garagentor. Zunächst übernimmt es zu hymnischen Chorgesängen und düsterer Elektronik die eigenwillige Motorik des Duos, bald findet es zu individuellen Bewegungen.
„Age of Content“: Athletisch wird am Boden liegend das Hinterteil bewegt
Das Bühnenbild ziert nun eine glutrot leuchtende, zerklüftete Höhle. Überall Finsternis. Keine Erkenntnis nirgends. So, wie digitale Welten häufig künstlich und hohl wirken, erscheinen auch diese Szenen, die an Ballerspiele und rohe, gleichgültige Erotik erinnern, seltsam leer. Es fehlt ihnen an dramaturgischer Richtung. Auch wenn die Szenen von angedeuteter Gewalt und Kampf in solche von Intimität und Gemeinschaft münden. Athletisch wird am Boden liegend das Hinterteil bewegt und recht explizit jenseits von konventionellen Männer- und Frauenbildern manch Kopulation angedeutet.
Erst im Finale erhebt sich zur Minimalmusik von Philip Glass ein rasantes Tableau Vivant aus schwungvollem Drehen, Rollen, Laufen. Man sieht gestreckte Beine, große, schnelle Gesten. Wilde, entfesselte Popkultur. Furiosen Tanz.
Heilsame Klänge in der Vorhalle
In diesen Momenten versteht man, warum sich Madonna mit (La) Horde für ihre anstehende Welttournee zusammengetan hat. Die beschwingten, wie auch die eher erzählerischen Tanztheater-Teile haben ihre choreografischen Stärken – und offenbaren einige Schwächen. Vor allem stehen sie disparat nebeneinander, wachsen nicht zu einem Ganzen zusammen. Darüber kann auch das atemberaubende Finale nicht hinwegtäuschen.
Noch mehr – diesmal wirklich utopische – digitale Welten gibt es in der Vorhalle zu entdecken, wo der US-Künstler Jacolby Satterwhite in „Reifying Desire 7 – Dawn“ in einer halbstündigen 3-D-Animation urbane Häuserwelten, Tanz und Spiritualismus verbindet. In sechs verschiedenen Umgebungen erkundet er menschliche Zusammenhänge – und führt sie angenehm unsentimental zu Liebe und innerem Frieden – auch mit heilsamen Klängen.
Scharfe Gitarrenriffs: Station 17 spielt Krautrock-Nummern
Rockiger geht es da zu vorgerückter Stunde im Kampnagel Club beim Konzert von Station 17 zu. Mit scharfen Gitarrenriffs zaubern die Hamburger Musiker bei ihrem Heimspiel Krautrock-Songs wie „Hausmann“ vom aktuellen Album „Oui Bitte“ oder auch ältere Werke wie „Zuckermelone“ auf die Bühne.
Im Garten drehen sich die Gespräche um mutige Kunst, ob man denn auch Florentina Holzingers Hubschrauber-Wasser-Show anschauen wird und wie gelungen – oder nicht – die vom Architektur-Kollektiv 4E verantwortete Gestaltung des Gartens in diesem Jahr ausfällt.
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Auf den ersten Blick unterscheidet er sich enttäuschend wenig vom vergangenen Jahr. Die Ziehharmonika-Hütten sind wieder da. Hinzugekommen sind ein paar Neon-Lichtsäulen, stählerne Bartische und große Sitzschaukeln. Von einem Kran hängt ein gigantischer blonder Rapunzel-Zopf herab.
Als Symbol dafür, dass bei diesem Avantgarde-Festival alte Theater-Zöpfe gekappt werden? Man wird sehen.
Internationales Sommerfestival bis 27.8., Kampnagel, www.kampnagel.de