Hamburg. Der Trompeter und die New Yorker Jazz-Band begeisterten in Hamburg mit unfassbarer Spielfreude. Beim Konzert wird auch viel gelacht.

Pünktlich um 20 Uhr marschieren die Mitglieder des Jazz at Lincoln Center Orchestra (JLCO) auf die Bühne der Elbphilharmonie und nehmen ihre Plätze ein. Doch wo steckt Wynton Marsalis, der Gründer und Leiter des Ensembles? Er steht nicht an vorderster Front als Taktgeber oder Top-Solist, sondern hat in der hintersten Reihe innerhalb der vierköpfigen Trompetensektion Platz genommen.

Im Mittelpunkt steht im ersten Stück Posaunist Elliot Mason. Er hat sich im Vordergrund neben Pianist Dan Nimmer aufgestellt und zeigt seine immensen musikalischen Fähigkeiten. Aber die besitzt jeder dieser New Yorker Künstler.

Das JLCO ist eine Weltklasse-Band, vielleicht die beste Bigband, die es zurzeit auf der Welt gibt. Und Marsalis? Erst bei der dritten Nummer erhebt er sich von seinem Stuhl, bläst anfangs in Richtung der Zuschauer, die im hinteren Teil des Konzertsaals sitzen, geht dann langsam nach vorn und klemmt sich zwischen das Klavier und den Bassisten Carlos Henriquez.

Elbphilharmonie Hamburg: JLCO-Konzert ist ausverkauft – nur wo steckt Wynton Marsalis?

Ursprünglich sollte das JLCO bereits im Oktober 2021 in Hamburg spielen, doch die Pandemie verhinderte den Auftritt. Das mag der Grund dafür sein, dass eine Reihe von Plätzen unbesetzt bleibt, denn im Ticketcenter der Elbphilharmonie steht in großen Lettern „ausverkauft“.

Für den bekennenden Jazzfan und Konzertveranstalter Karsten Jahnke ist dieses Konzert das wichtigste des Jahres, intensiv hatte er sich sehr lange darum bemüht, einen Termin mit dem gefragten Trompeter und seiner Bigband zu bekommen. Nun ist Marsalis da, und um es vorwegzunehmen: Das Konzert in der Elbphilharmonie wird zu einer Sternstunde des Jazz.

Jazz-Konzert von JLCO in Hamburg: Obwohl ausverkauft, sind einige Plätze leer

Gleicher unter Gleichen: Wynton Marsalis und das Jazz at Lincoln Center Orchestra in der Elbphilharmonie.
Gleicher unter Gleichen: Wynton Marsalis und das Jazz at Lincoln Center Orchestra in der Elbphilharmonie. © Marcelo Hernandez

Der Trompeter, vor 61 Jahren in New Orleans geboren und zuletzt im Februar 2020 in der Elbphilharmonie, fungiert während der kommenden zwei Stunden als „Primus inter Pares“. Völlig uneitel nimmt er sich nicht mehr solistische Spielzeit, als sie auch alle anderen Mitglieder des Ensembles bekommen.

Im Übrigen geht es nicht um einen internen Wettbewerb, wer die tollste Improvisation hinlegt, sondern darum, den Facettenreichtum der Jazzgeschichte in komplexen eigenen Kompositionen oder in Interpretationen von Stücken anderer Jazzmeister zu zeigen. Marsalis sieht als einen Bewahrer der Jazzhistorie, er ist ein Traditionalist im besten Sinne.

Wynton Marsalis: Seine „Abyssinian Mass“ ist eine gewaltige Komposition

Die wichtigen Pole liegen in New Orleans, wo er in eine Familie aus Jazzmusikern hineingeboren wurde, und New York, wo er das Lincoln Jazz Center zu einem Mittelpunkt dieser originären afroamerikanischen Kultur gemacht hat. Zu Beginn des Hamburger Auftritts spielt Marsalis Teile der „Abyssinian Mass“, eines gewaltigen Stücks, das er 2008 zur 200-Jahr-Feier der Abyssinian Baptist Church in Harlem komponiert hat.

Diese Messe, ursprünglich mit dem JLCO und einem 70-köpfigen Chor uraufgeführt, drückt die 200 Jahre lange Geschichte der Schwarzen in Nordamerika aus. Das unendliche Leid der Sklaverei und der harten Knochenarbeit auf den Plantagen des Südens, die Hoffnung auf eine Erlösung im Himmel, das Aufbegehren gegen das rassistische System in den 60ern und die sich anschließende Entwicklung eines schwarzen Selbstbewusstseins ­– das alles findet sich in diesem unter die Haut gehenden Stück.

Wynton Marsalis: Es wird viel gelacht auf der Bühne

Schon in der „Abyssinian Mass“ finden sich Rhythmen und Melodien, die an New Orleans und sein historisches Vergnügungsviertel Storyville erinnern und an die stimmungsvollen Beerdigungsumzüge. Weit zurück in die Geschichte bis zu den Anfangstagen des Jazz führt er die Zuhörer mit Jelly Roll Mortons „Tom Cat Blues“. Dafür nehmen Marsalis, Posaunist Chris Crenshaw und Klarinettist Chris Lewis vorn auf der Bühne Platz und spielen eine lustige Nummer mit gluckernder Trompete, grummelnder Posaune und quäkender Klarinette. Der Rest des Orchesters kommentiert das Spiel mit Zwischenrufen, hinterher klatschen die Musiker sich ab.

Es wird auf der Bühne viel gelacht, die Spielfreude ist offensichtlich, immer wieder schlägt der eine dem anderen anerkennend für ein besonders gelungenes Solo auf die Schulter. Mit dem Programm in der Elbphilharmonie verbeugt sich Marsalis auch vor ein paar Größen des Jazz. Zum Repertoire des Abends stehen Bearbeitungen von Duke Ellingtons „Toot Suite“ und von Wayne Shorters „The Three Marias“. Auch der weiße Pianist Dave Brubeck erhält eine Hommage durch die Interpretation seiner Komposition „Strange Meadowlark“.

Wynton Marsalis: Das Publikum verlangt Zugabe auf Zugabe

Das JLCO ist auch eine Art Ausbildungsstätte für junge hochtalentierte Musiker. Aufhorchen lässt die 31 Jahre alte Saxofonistin Alexa Tarantino, die bei Ellington „Red Shoes“ ein mitreißendes Solo auf der Klarinette beisteuert. Dramaturgisch perfekt darf sich Abdias Armenteros, ein junger Saxofonist mit kubanischen Wurzeln, am Ende des Abends im Alleingang präsentieren. Sein Spiel ist geradezu magisch, erinnert an John Coltrane und Sonny Rollins und bläst das Publikum wie von einen Sturm weg. Offenes Staunen, überwältigender Beifall – gerade hat ein Musiker seine Visitenkarte überreicht, von dem man in Zukunft noch viel hören wird.

Das Publikum ist so aus dem Häuschen, dass es Marsalis geradezu zu zwei weiteren Zugaben zwingt. Die spielt er mit Nimmer, Henriquez und Schlagzeuger Obed Calvaire. Die vier verwandeln die Elbphilharmonie mit den balladesken und sanften Stücken wie in einen intimen Club. Konzert des Jahres!