Hamburg. Ein Spektakel und zwei große Ehrungen: Kent Nagano dirigierte Jörg Widmanns übergroßes Oratorium „ARCHE“ in der Elbphilharmonie.
- Bereits 2017 zur Eröffnung wurde in der Elbphilharmonie das Übergrößen-Oratorium „ARCHE“ aufgeführt
- Nun stand das Mammutwerk für das Philharmonische Staatsorchester unter Leitung von Kent Nagano erneut auf dem Spielplan
- Nach einem grandiosen Konzert gab es für Nagano noch mehr Grund zum Lächeln: Er erhielt eine ganz besondere Ehrung
„In solchen Momenten wissen wir, warum wir diesen Saal gebaut haben“, so begann Kultursenator Carsten Brosda seinen nachkonzertlichen Empfangs-Redeanteil. Ja, schon auch, aber: doch nicht ganz. Denn wäre Jörg Widmanns Übergrößen-Oratorium „ARCHE“ einziger Maßstab und Referenzgröße, gäbe es nicht ständig, täglich geradezu außerordentliche Konzerte im Herzen der Elbphilharmonie, sondern nur alle sechs Jahre. So lange – die Corona-bedingte Verschiebung um mehr als ein Jahr inklusive – hatte es gedauert, bis diese Auftragsarbeit für die Eröffnungstage 2017 erneut ins Konzertrund gestemmt und dort so begeistert gefeiert wurde, als wäre es Mahlers Achteinhalbte.
Wenn schon, denn schon, hatte man sich offenbar überlegt, also wurde bei dieser Gelegenheit nicht nur eine seltene Ehre, sondern zwei vergeben: Generalmusikdirektor Kent Nagano ist von nun an Ehrendirigent des Philharmonischen Staatsorchesters, erst der dritte von dreizehn großen Namen und bereits zwei Jahre, bevor er seinen Posten verlassen wird. Widmann kann sich nun, verdient stolz, Hamburger Bach-Preis-Träger nennen und zieht damit mit zwei seiner Lehrer, Wolfgang Rihm und Hans Werner Henze gleich, in einer Liga mit Hindemith, Ligeti, Stockhausen, Boulez, Gubaidulina oder Chin.
Elbphilharmonie: Eine randvolle „ARCHE“, Würdigungen für Nagano und Widmann
Brosda lobte den Tonsetzer Widmann, der auch dirigiert (gerade wurde er zum Ersten Gastdirigenten beim NDR-Orchester in Hannover berufen) und ein virtuoser Klarinettist ist, als Multitalent und Grenzerweiterer. Widmann gelänge es mit seiner Musik, Herzen und Seelen des Publikums zu berühren. Und Musik, die auf dessen „Prinzip Hoffnung“ stehende Ernst-Bloch-Fankurve wisse das eh, sei nun mal „die utopisch überschreitende Kunst schlechthin“.
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Naganos Wirken seit 2015 wiederum verdanke Hamburg viele musikalische Impulse und einen herausragenden Orchesterklang, betonte Brosda. Man freue sich über die dauerhaft etablierte Beziehung. Der Ehrentitel sei daher nicht nur Symbol der Würdigung von Geleistetem, sondern ebenso Erinnerung, über das Ende der Amtszeit hinaus miteinander verbunden bleiben zu sollen. Später am Abend, beim Empfang im Foyer des Kleinen Saals, gab Nagano auch dieses Kompliment großflächig zurück: „Dieses Orchester träumt davon, was möglich ist“ und wie man gemeinsam immer besser werden könne.
Elbphilharmonie: Ein Spektakelstück und ein riesiger Pluspunkt des Abends
So viel also zum harmonischen zeremoniellen Teil mit seligen Würdentragenden und gerührten Urkundenempfängern. Das elbphilharmonische Konzert selbst, gut 100 pausenlose Minuten lang? Faszinierend, auf ganz unterschiedlich möblierten Deutungs- und Bedeutungsebenen. Denn Widmanns „ARCHE“, er nannte es damals nicht ohne Grund ein „monströses Projekt“, ist auch ein absichtsvolles, effektvolles Spektakel-Stück, auf Termin gearbeitet und anlassbezogen.
Damals, Januar 2017, als noch alles so ganz neu war und die Saalakustik noch so aufregend klang, wie nur ein fabrikneues Auto im Innenraum riecht, war diese Premiere von Aufregung, Stolz und wohl auch einer leicht latenten Überforderung durch die hektischen Umstände geprägt gewesen: das Riesen-Orchester, die zwei Chöre, Alsterspatzen-Kinder und Jugendchor, die Audi Jugendchorakademie, zwei berichterstattende Kinder und ein Knabensopran fürs elysische Finale plus zwei ausgewachsene Stimmen. Ein Text-Konvolut, das den Bogen von der Bibel über Schiller und Nietzsche bis zu Sloterdijk spannt. Oder auch mal überspannt, wenn es um Schlagwörter aus dem Hier und Jetzt geht, die, warum auch immer, eine Jugendlichen-Gruppe herunterzurasseln hat.
Elbphilharmonie: Meisterhafte Weiterverwertung von Stilanklängen und Zitaten
Das alttestamentarische Frachtschiff mit Noah am Ruder hatte schließlich auch von allem etwas – und ja nicht zu knapp – an Bord zu nehmen. Inzwischen, viele großorchestrale Herausforderungen im Großen Saal später, sind aber sowohl die Philharmoniker als auch Nagano selbst deutlich gelassener und erfahrener im Umgang mit Raum und Wirkung. Ein riesiger Pluspunkt dieses Abends.
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Dass Widmann ein meisterhafter Weiterverwerter von Stilanklängen und Zitaten ist, hatte er auch in diesem enzyklopädisch aufgefächerten Opus bewiesen, das episch um Schöpfungsgedanken, Sinnsuche, Liebesdramen und Vergebung kreist: bacheske Choralsätze mit kunstvoll verrückten Akkordfolgen; eine sanfte Andeutung von „Der Mond ist aufgegangen“; Massenszenen im „Sintflut“-Abschnitt, die auf emotionale Überwältigung setzten, als hätte Steven Spielberg die Betriebstemperatur-Kurven der Partitur inszeniert; die Orgel, die mit derart göttlichem Nachdruck dazwischendröhnte, dass der Saalboden ehrfürchtig mitvibrierte. Wie gekonnt Widmann Passagen aus Beethovens „Chorfantasie“ in seine eigene Klangwelt durchpauste und verwob, das war auch bei der zweiten Live-Begegnung damit ein längerer Moment höchst erfreuten Staunens.
Elbphilharmonie: Hin und wieder auch leere Kalorien
Hin und wieder sind Widmann allerdings auch groß besetzte Passagen mit eher leeren Kalorien durchgerutscht, die aus heutiger, entspannterer Sicht auf das Ganze unnötig flach klingen, aber wohl vor allem auf die Publikumswirkung abzielten: 100 Minuten frische Avantgarde für ein Nicht-Spezial-Publikum, da darf es nicht immer nur akademisch dröge mit Bauplänen rascheln.
Der Bariton Thomas E. Bauer, schon 2017 dabei gewesen, und die Sopranistin Mojca Erdmann waren für ihre Aufgaben ein ideal gecastetes Paar: Er als auch spielfreudige Mischung aus Erzähler, Role model und Evangelist, sie als in höchsten Tönen funkelnde Erscheinung, die archetypisch das Weibliche verkörperte, das auch mal hinabzieht.
Und für alle, die jetzt und dort auf den Geschmack gekommen sind: In schon fast genau einem Jahr wird Nagano im Großen Saal Messiaens monumentale Fünf-Stunden-Oper „Saint François d’Assise“ dirigieren, jenes Projekt, das schon Naganos Vor-Vorgänger Ingo Metzmacher auf seiner To-do-Liste hatte. Es geht, selbst in der Elbphilharmonie, also immer noch eine Nummer größer, auch nach dann sieben Jahren.
Live-Mitschnitt: „ARCHE“ (ECM, 2 CDs, ca. 23 Euro)