Hamburg. Hamburgs Generalmusikdirektor Kent Nagano über seine Ernennung zum Ehrendirigenten und die Debatte um einen Staatsopern-Neubau.

Kent Nagano muss immer wieder viel richtig gemacht haben in den letzten acht Jahren als Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters. Denn die Ehrendirigentenwürde bekommt man dort nicht mal eben im Vorbeidirigieren. Er ist die dritte von dreizehn Führungspersönlichkeiten, nach Karl Böhm 1974 und Wolfgang Sawallisch 2003.

Am Montag, bei der Wieder-Aufführung von Jörg Widmanns XXXL-Oratorium „ARCHE“ – das Stück wurde für die Elbphilharmonie-Eröffnung 2017 maßgeschneidert – gibt es neben dem Festakt für Nagano den Bach-Preis der Stadt Hamburg für Widmann, der nun in einer Reihe mit Größen wie Hindemith, Lachenmann, Ligeti, Messiaen, Henze, Schnittke, Stockhausen, Rihm oder Gubaidulina steht.

Hamburger Abendblatt: Sie verlassen Ihren Posten erst 2025, aber die Abschiedsgeschenke vom Orchester gibt es jetzt schon. Sonderbares Timing, oder?

Kent Nagano: Natürlich ist das vor allem eine große Ehre, und es reflektiert unsere besondere Beziehung. Und ebenso, dass die gemeinsame Entwicklung im Lauf der Jahre immer stärker wurde. Das Orchester möchte, dass diese Entwicklung weitergeht.

Kent Nagano: „Wir wollen nicht, dass es endet“

Was, glauben Sie, gab den Ausschlag? Und was muss man tun oder lassen, um Ehrendirigent zu werden?

Das ist schwer zu erklären, weil es geheimnisvoll ist, es geht viel um die gemeinsame Chemie, um ein Gefühl. Wieso sucht man sich – aus allen Menschen auf der Welt – eine Person als Lebenspartner aus? Nicht nur der Orchestervorstand, das gesamte Orchester hat diese Entscheidung getroffen. Man verbringt sehr viel Zeit miteinander, irgendwo mittendrin passieren diese außerordentlichen Momente. Eines der wichtigen Themen war immer: Wie klingt Hamburg? Wie setzten die jungen Menschen im Orchester diese Tradition fort?

Kent Nagano ist seit 2015 Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters und Generalmusikdirektor an der Hamburgischen Staatsoper.
Kent Nagano ist seit 2015 Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters und Generalmusikdirektor an der Hamburgischen Staatsoper. © Dominik Odenkirchen | Dominik Odenkirchen

An welche Schlüsselmomente erinnern Sie sich?

Die kommen ziemlich regelmäßig. Das erste Mal war bei einer Probe für Berlioz‘ „Les Troyens“, als ich versucht hatte, die nicht so einfache Akustik unseres Opernhauses zu verstehen. Und plötzlich hörte ich etwas, was kein anderes Orchester hat. Eine Art von Atem, ein gemeinsames musikalisches Ideal. Oder bei Debussys „Pelléas et Mélisande“, einer Partitur, mit der ich schon in Paris, Lyon, London, den USA und Japan gearbeitet habe. Und wie dieses Orchester den Anfang gespielt hat – das war etwas Besonderes. Oder die ersten zwei Takte von Brahms‘ „Schicksalslied“ beim Gastspiel in der Carnegie Hall. Die kamen aus einer anderen Welt.

Kent Nagano: „Es kommt dabei immer auf die Art des Übergangs an“

Wenn es hier so speziell und toll ist, warum hören Sie dann auf?

Das fragen mich viele … Ich bin Musiker und wir sind sehr sensibel für Phrasierungen. Es gibt natürliche Phasen und Zyklen. Meistens sind sie mit der Natur verbunden. Für persönliche Beziehungen ist es unter anderem wichtig, nichts für selbstverständlich zu halten. Ja, es ist klar, dass unsere Beziehung sich immer weiter vertiefen wird. Aber ist es für das Orchester notwendig, dass ich deswegen jeden Tag als Generalmusikdirektor hier bin, oder kann es auf andere Weise weitergehen? Erreicht man das Ende einer Phrase, folgt normalerweise die nächste. Es kommt dabei immer auf die Art des Übergangs an. Ich kam mit Georges Delnon, wir werden bis 2025 zehn Jahre gemeinsam gearbeitet haben, er hat sich entschieden, danach aufzuhören. Wäre das nicht so gewesen, hätte ich entsprechend andere Überlegungen angestellt.

Ihre Vorgängerin Simone Young ging nach zehn Jahren. Ingo Metzmacher, entnervt von der damaligen Kulturpolitik, schon nach acht. Gibt es eine Art Verfallsdatum für GMDs in Hamburg?

Bei uns ist es anders. Wir wollen nicht, dass es endet. Wir werden weitermachen, über die zehn Jahre hinaus.

Gibt es Vorrechte bei Programmwünschen für einen Philharmoniker-Ehrendirigenten?

Schriftlich festgehalten ist nichts, ich habe keine speziellen Anrechte. Aber es gibt ein Vertrauen, und ich habe die Verantwortung übernommen, immer da zu sein, wenn das Orchester mich braucht. Wir werden nach 2025 sicher zusammen Musik machen.

Kent Nagano: „Für mich steht außer Frage, dass ein neues Opernhaus kommen wird“

Welche Verbindungslinien gibt es zwischen Ihnen und den anderen Ehrendirigenten Böhm und Sawallisch?

Darüber habe ich bis jetzt noch nicht nachgedacht. Zu Maestro Sawallisch hatte ich eine sehr starke Verbindung, als ich nach Bayern an die Münchner Staatsoper ging, an der er lange prägend gewesen war, war er für mich – einen Fremden – eine Art Kultur-Beirat. Wir sind Repertoire am Klavier durchgegangen und er hat mir die damaligen Traditionen erklärt. Ich bin mir sicher, dass er einen musikalischen Einfluss auf mein Denken hatte. Ich bin etwas zu spät nach Europa gekommen, um Karl Böhm kennenzulernen, leider. Aber, immerhin: Ich habe einmal für ihn Celesta gespielt, bei einer Probe von Strauss’ „Schweigsamer Frau“ in San Francisco. Aber das zählt nicht.

Wie ist der Stand der Dinge beim Thema Staatsopern-Neubau? Kürzlich klang Klaus-Michael Kühne so, als wäre man damit wichtige Schritte in seine Richtung weiter: konkretes Wunsch-Areal ausgesucht, der Elbtower-Investor Benko ist raus aus der Rechnung …

Für mich steht außer Frage, dass ein neues Opernhaus kommen wird. Es ist aber sehr wichtig, das Timing zu respektieren. Wann ist der richtige Moment? Wird etwas forciert und das Timing stimmt nicht, ist es nur selten erfolgreich. Wir haben hier eine großartige Konzerthalle gebaut, aber das war nicht so einfach. Man sieht, wie organisch die Elbphilharmonie mit der Geschichte Hamburgs verbunden ist. Für ein neues Opernhaus braucht es die richtigen wirtschaftlichen Lösungen. Wo soll es stehen und was wird aus der jetzigen Staatsoper? In fast allen großen Städten gibt es mehr als eine Oper. Ein anders gestaltetes Haus ermöglicht auch anderes Repertoire.

Werden wir bis 2030 erleben, dass jemand Offizielles mit einem Spaten in HafenCity-Erde sticht?

Das ist sicherlich möglich. Andererseits, wer weiß schon jetzt, wie sich die Welt bis dahin entwickeln wird?

Kent Nagano: „Das ist ein besonderes Orchester“

Möglich, ok. Aber ist eine neue Oper auch wirklich notwendig?

Was meint „notwendig“? Braucht es ein Konzerthaus, um gute Musik zu spielen? Mit einem meiner Orchester gab es eine Zeit ohne Halle; in Lyon haben wir zweieinhalb Jahre auch ohne Opernhaus gute Opern gespielt. Wegen der historischen Perspektive auf Hamburg als führende Stadt bin ich mir sicher, dass ein neues Opernhaus kommt.

Die Gesamtbilanz Ihrer Amtszeit steht erst 2025 an, aber dennoch, bezogen auf eine Skala von 1 bis 10: Wo standen die Philharmoniker, als Sie hier anfingen, wo stehen Sie jetzt?

Die Antwort ist nicht so einfach, weil sie von den Parametern abhängt. Wir leben in einer Zeit, in der Dinge nach Verbrauchswerten beurteilt werden. Was also ist das Wertesystem? Für mich ist Originalität sehr hoch zu bewerten. Hier war von Anfang an klar: Das ist ein besonderes Orchester, mit einer besonderen Tradition und deswegen auch besonderem Potenzial. Ein Original ist ein Original, das hat nichts mit mir zu tun. Ein weiterer Punkt, ebenfalls enorm wichtig für mich: In welcher Verbindung steht ein Orchester zu seiner Community? Die Gesellschaft hier fühlt sich diesem Orchester sehr verbunden. Als wir hier anfingen, waren die Häuser voll. Sie sind es jetzt – und immer – wieder. Die rein spieltechnischen Fähigkeiten? Da gab es ebenfalls eine interessante Evolution. Das Orchester fühlt auf besondere Weise, was ein Ensemble bedeutet, was Harmonie auch inhaltlich bedeutet.

Dann übersetze das für Sie mal in: ehrgeizige Acht und guter Charakter.

Sagen wir lieber: Zehn.

Konzerte: 4.6., 11 Uhr / 5.6., 20 Uhr, Elbphilharmonie, Gr. Saal. CD-Mitschnitt: „ARCHE“ (ECM, 2 CDs, ca. 19 Euro)