Ulrich Seidel bringt mit „Sparta“ erneut einen unbequemen Film ins Kino. Gegen den Regisseur gab es Vorwürfe. Was ist davon geblieben?
Da ist ein Unbehagen bei diesem Film, von Anfang an. Irgendwas stimmt nicht mit diesem österreichischen Ingenieur Ewald (Georg Friedrich), der da in einem Kraftwerk in Rumänien arbeitet. Allein und fremd ist er hier, nicht nur wegen seiner mangelnden Sprachkenntnisse. Auch mit seiner Freundin läuft es nicht gut. Im Bett kriegt er, nun ja, keinen mehr hoch. Umso unbeschwerter tollt er einmal mit ihren noch kindlichen Brüdern herum. Oder macht beim Schneeballspiel wildfremder Jungs mit. Um dann abrupt fortzurennen und im Auto zu heulen.
Ulrich Seidls „Sparta“: Es ist das Kino des großen Unbehagens
Eines Tages macht Ewald Schluss. Verlässt die Freundin. Schmeißt den Job. Und fährt aufs Land, in einen verarmten rumänischen Ort. Um dort eine alte, verkommene Schule zu kaufen. Und in eine Festung umzubauen, die er Sparta nennt, als Zuflucht für Jungs, denen er Karate beibringt und mit denen er dann halb nackt in der Sommerhitze herumtollt. Wobei er sie fotografiert und sich diese Fotos nachts heimlich alleine ansieht.
Da ist ein Unbehagen. Und es ist intendiert. Weil Ulrich Seidl hier einen Menschen zeigt, der mit den Dämonen seiner eigenen Obsessionen ringt. Wobei das Reizwort Pädophilie nie fällt und das Thema sich erst nach und nach herausschält. Wer noch nie von dem Film „Sparta“ gehört hat, der jetzt in den Kinos läuft, dürfte also erst mal überrascht und dann ziemlich schockiert sein. Es dürfte allerdings viele geben, die bereits von dem Film gehört haben, löste er doch im vergangenen September einen wahren Skandal aus.
Vernachlässigtes Kindeswohl: Gegen den Regisseur gab es schwere Vorwürfe
Nur eine Woche vor der Weltpremiere auf dem internationalen Filmfestival in Toronto publizierte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ einen Artikel, in dem schwere Vorwürfe gegen Seidl erhoben wurden: Die Eltern der rumänischen Laiendarsteller seien im Unklaren über die sexuellen Inhalte des Films gelassen worden, und das Kindeswohl sei bei den Dreharbeiten vernachlässigt worden. Daraufhin beherrschte das Thema über Wochen die Schlagzeilen. Und als auch das US-amerikanische Branchenblatt „Variety“ darüber berichtete, zog Toronto den Film zurück – ohne die Anschuldigungen zu überprüfen.
Stattdessen wurde der Film dann Ende September uraufgeführt beim Filmfestival San Sebastián, das „Sparta“ trotz großen medialen Drucks im Programm ließ. Seidl sagte aber kurzfristig seinen Besuch ab und schickte stattdessen eine Verlautbarung, dass er in Rumänien sei, um mit den jugendlichen Darstellern und deren Eltern den fertigen Film anzuschauen und zu diskutieren. Die Premiere des Films offenbarte dann, dass der Film nicht für den Empörungsgestus taugte. Und von dem, was man da sah, konnte man keinerlei Rückschlüsse ziehen auf die Art der Entstehung. Aber die Diskussion darüber ebbte nicht ab.
Seidls Filme provozieren stets und spalten das Publikum von jeher
Nun gibt es ja immer ein Unbehagen bei Seidl-Filmen, weil er stets die bitteren Abgründe der bürgerlichen Wohlstandsgesellschaft offenlegt und als nur leicht satirisch überspitzten Zerrspiegel vorhält. Seine Filme provozieren stets und spalten das Publikum von jeher. Ein gewisser Ekel ist immer dabei und macht auch eine gewisse Faszination des Grauens aus.
Ob Seidl das intime Verhältnis des Menschen zu seinem Haustier beleuchtet („Tierische Liebe“, 1995) oder heimliche Obsessionen in den eigenen vier Wänden („Im Keller“, 2014), ob es um Sextourismus weißer Frauen in Afrika geht („Paradies: Liebe“, 2012) oder ob er gleich mehrere Abgründe in einem Wiener Vorort entlarvt („Hundstage“, 2001). Was andere schamvoll unter den Teppich kehren und zudem mit dem Mäntelchen des Schweigens überdecken, das stellt er ungeniert bloß. Wobei er diese monströsen Hässlichkeiten nicht nur decouvriert, sondern, als größte Provokation, in überhöhte, wohlkomponierte, große Kinobilder gießt. Wie Heiligenbilder des Unheiligen.
Die tragische Figur des Ewald kennt man aus Seidls letztem Film „Rimini“
Der tragischen Figur des Ewald ist man dabei schon in Seidls letztem Film „Rimini“ begegnet, der 2022 Premiere auf der Berlinale feierte. Dort ging es eigentlich um dessen Bruder, den abgehalfterten Schlagerstar Richie Bravo (Michael Thomas), der im fernen Italien mühsam seinen eigenen Mythos aufrechtzuerhalten sucht, aber dort seine letzten weiblichen Fans nicht nur musikalisch, sondern auch sexuell beglückt und dafür Geld erbetteln muss, um über die Runden zu kommen.
Nur kurz kam dieser Richie in „Rimini“ nach Österreich, zur Beerdigung der Mutter. Und auf Kurzbesuch im Altenheim beim Vater, einem stummen, aber strammen Alt-Nazi (Michael Rehberg, der bereits 2017 gestorben ist, in seiner letzten Rolle). Und man ahnte, welche brutalen patriarchalen Strukturen da zur Deformation der Söhne geführt haben. Eine Kritik an verkrusteten Rollenbildern und den seelischen Verheerungen, die angerichtet werden, wenn junge Menschen zu „echten Männern“ gemacht werden sollen.
Kinder werden als Eigentum betrachtet, mit dem man machen kann, was man will
In „Sparta“ geht es nun um den anderen Sohn, der sich im Gegensatz zu seinem Bruder nie in den Vordergrund spielt, der stets gern im Hintergrund bleibt. Und der doch auch eine Lebenslüge aufrechtzuerhalten sucht. Aber dann doch seine lange verdrängten, unterdrückten Obsessionen auszuleben versucht. In einer Festung, die als Zuflucht nach innen und als Trutzburg nach außen aufgebaut wird. Und die misstrauisch beäugt wird von den Vätern des Orts.
Nicht dass die liebevoller mit ihren Jungen umgehen würden, auch das zeigt Seidl in seiner kühlen, quasidokumentarischen Inszenierung. Sie betrachten ihre Kinder als Eigentum, mit dem sie machen können, wie sie wollen. Darin dem unverbesserlichen, aber dahindämmernden Nazi-Vater der ungleichen Brüder, der auch im zweiten Teil wieder eine Rolle spielt, nicht ganz unähnlich. Und diese Väter stehen schließlich vor dieser Festung, wollen sie einreißen und ihre Kinder zurückhaben.
Seidl hat Reaktionen und Kontroversen auch immer kalkuliert und herausgefordert
Seidls Filme eckten stets an, wurden immer leidenschaftlich und teils erhitzt diskutiert. Der Wiener hat diese Reaktionen und Kontroversen auch immer kalkuliert und herausgefordert. Aber erstmals ist ein Film zum Skandal geworden, der sich gegen den mittlerweile 70-Jährigen selber richtet. Wie mit dem Skandalon umgehen und dem lange so gefeierten und nun so geschmähten Regisseur, immerhin einer der renommiertesten Filmemacher des Landes?
Da zeigt sich viel Unbeholfenheit und Rumgeeiere. Etwa als das Filmfest Hamburg Seidl im Oktober den angekündigten Douglas-Sirk-Preis dann doch nicht verleihen wollte, aus Angst, das könnte den eigenen Ruf beschädigen. Der Film wurde dann aber doch gezeigt, weil sich zuvor San Sebastián der Vorverurteilung verweigert hat.
„Sparta“: Die Zuschauer können sich endlich selbst ein Bild machen
Während einige Medien in Österreich die Vorwürfe wiederholten, kritisierte der dortige Verband der Filmregie die unsachliche öffentliche Reaktion und forderte eine gründliche Aufarbeitung. Der Film hatte dann Ende Oktober Premiere auf der Viennale in Wien. Seidl brach bei dieser Gelegenheit das bislang selbst auferlegte Schweigen und wehrte sich gegen die „groteske Verdrehung“. Gestand aber ein, es sei ein Fehler gewesen, nach dem Dreh nicht mehr mit den Eltern der jugendlichen Darsteller im Kontakt geblieben zu sein. Nachdem sie den Film gesehen hätten, so Seidl, würden sie ihm nichts mehr vorwerfen.
Das Beste, was man über den Casus „Sparta“ sagen kann, ist, dass er eine Debatte angestoßen hat. Das Österreichische Filminstitut, der Hauptfinanzier des Films, stellte nach einer Prüfung fest, es habe keine Vertragsverletzungen gegen den „Code of Ethics“ gegeben, den es erst im Vorjahr zusammen mit dem Filmfonds Wien eingeführt hatte, um Förderungen an klare Maßgaben gegen sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch zu knüpfen. Seither wird aber auch ein neues Kinderschutzkonzept bei Filmdrehs erarbeitet.
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Die Debatte um Seidl hat sich seither beruhigt. Von Mitte Januar bis Anfang März hat das Filmarchiv Wien ihm sogar eine Retrospektive mit all seinen Werken ausgerichtet. Dabei wurden seine letzten beiden Filme auch erstmals als Diptychon gemeinsam gezeigt: „Böse Spiele – Rimini Sparta“. Nun startet „Sparta“ gleichzeitig in Österreich und Deutschland, neun Monate nach der abgesagten Weltpremiere. Der Zuschauer kann sich endlich selbst ein Bild machen. Die Frage aber bleibt, ob die Erregung damit noch einmal hochkochen könnte. Und ob Seidls Ruf nicht doch darunter leiden wird.
„Sparta“ 99 Minuten, ab 16 Jahren, läuft am 18.5. im Abaton