Hamburg. „Beau Is Afraid“ ist wahnwitziges Überwältigungskino – Drama, Horror, Groteske. Die Zuschauer beschleicht ein verstörender Gedanke.
Er möchte nicht hinaus in die Welt. Schon bei seiner Geburt, mit der dieser wahnwitzige Film beginnt, erleben wir, wie das Baby den schützenden Mutterschoß nicht verlassen will. Später, als älterer, schwermütiger Mann, verschanzt sich dieser Beau (Joaquin Phoenix) dann in
seiner heruntergekommenen Sozialwohnung.
Vor der Haustür herrschen Anarchie, Chaos und Totschlag, schon ein kurzer Gang über die Straße zum Laden gegenüber wird da zum Überlebenskampf zwischen lauter Obdachlosen, Drogenabhängigen und gewaltbereiten Psychopathen. Doch so verrückt kann selbst der schlimmste Slum nicht sein. Man ahnt da schon früh, dass der Leidtragende selbst ein bisschen verrückt ist.
Darauf verweist auch die Tatsache, dass Beau, wenn er sich überhaupt nach draußen wagt, zum Therapeuten geht. Der verschreibt ihm allzu willig Medikamente, die seine Wahnvorstellungen eher zu mehren als zu mindern scheinen. Aber dann muss Beau doch raus aus seiner selbst gewählten Zelle.
Weil seine Mutter einen absurden Tod gestorben ist, muss er sich zur Beerdigung auf die Reise machen. Doch schon der Aufbruch wird zum Fanal. Die ganzen Seelenwracks der Straße scheinen seine Wohnung zu stürmen, wollen ihm buchstäblich ans Leder. Panisch und splitterfasernackt flieht Beau auf die Straße. Und wird von einem Lastwagen erfasst.
„Beau Is Afraid“: Man fragt sich, was dieser Film eigentlich soll?
Der Film „Beau Is Afraid“ ist der jüngste Streich von Ari Aster, der es mit nur zwei Filmen zu Kultstatus gebracht hat: „Hereditary“ und „Midsommar“, zwei Werke, die dem Genre Horrorfilm ganz neue Dimensionen verschafft haben. „Beau Is Afraid“ ist nun die dritte Zusammenarbeit mit dem Studio A24, das sich mit Independentperlen wie „Moonlight“ oder „Lady Bird“ als wahre Talentschmiede erwiesen hat und nun mit „Everything Everywhere All At Once“ zu allerhöchsten Oscarehren gekommen ist.
Ein Signal an das Filmbusiness, dass man auch abseits des Hollywood-Mainstreams mit schrägen, aber originellen Werken ein globales Publikum gewinnen kann. Und eine Bestätigung für A24, weiterhin auf eigenwillige und unangepasste Projekte zu setzen.
„Beau Is Afraid“ ist nun mit einem Budget von 35 Millionen Dollar das teuerste Wagnis, das das Studio je eingegangen ist. Das Ergebnis könnte indes zur Erkenntnis führen, dass man seinen Talenten vielleicht doch nicht ganz freien Lauf lassen, sondern sie zumindest ein wenig steuern sollte.
Der Beginn des Dreistünders ist grandios-verstörender Großstadthorror
„Beau Is Afraid“ fängt zwar grandios an mit dem verstörenden Großstadthorror. Als Beau dann gegen das Auto knallt, wird die Leinwand kurz wieder so dunkel wie anfangs, im Mutterbauch. Dann wacht er in einem gutbürgerlichen Vorstadthaus mit sonnigem Garten und heimeliger Atmosphäre auf. Aber auch da lacht der Horror bald aus jeder Ritze. Allzu freundlich und fürsorglich ist das alte Ehepaar (Amy Ryan und Nathan Lane), das den Laster gefahren hat und ihn nun gesund pflegt. Die beiden haben einen Sohn im Krieg verloren und wollen Beau als Ersatz in ihre Familie aufnehmen. Auch gegen dessen Willen.
Wieder muss er also raus. Und wenn er erneut panisch davonläuft, ist auch das nur ein Vorgeschmack. Denn damit fängt eine wahre Odyssee in den Irrsinn an. Mit Beau verläuft sich der Zuschauer in einen Wald, verrennt sich aber zugleich in dessen Ängste, ja Wahnvorstellungen. Und in seine Erinnerungen, die als Flashbacks aufblitzen. Sie zeigen eine Helikoptermutter, die ihren Sohn von Anfang an bevormundet, vereinnahmt und manipuliert hat. Und ein Muttersöhnchen, das nie gelernt hat, sich zu emanzipieren. Ja, selbst als Tote spukt die Mutter (Patti LuPone) ihm noch einschüchternd im Kopf herum.
„Beau Is Afraid“ ist ein Herzensprojekt seines Schöpfers Ari Aster
„Beau Is Afraid“ ist ein Herzensprojekt seines Schöpfers, an dem er schon als Student der Filmhochschule elaborierte und das er dann seit seinem Kurzfilm „Beau“ über Jahre immer weiterentwickelt hat. Ein Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gibt, kein Inferno, das nicht noch von einer anderen Hölle überboten werden könnte. Kein Genre, von dem man nicht auch noch Anleihen reinrühren könnte.
Wenn Beau dann im Wald auf eine bizarre Kolonie trifft, die sich „Die Waisen des Waldes“ nennt, fühlt man sich in Asters „Midsommar“ versetzt. Diese Waldwaisen aber spielen Beau ein Theaterstück vor, in dem er irgendwie die Hauptrolle hat. Da kommen auch noch gemalte Kulissen und Animationstricks als zusätzliche Verstörungselemente zum Einsatz. Doch manchen Zuschauer beschleicht da ein nicht minder verstörender Gedanke: Was soll das alles eigentlich?
Jede Vorstufe zur Hölle ist für sich virtuos in Szene gesetzt
Keine Frage: Ari Aster ist ein Meister seines Fachs. Jede Vorstufe zur Hölle ist für sich virtuos in Szene gesetzt und mit fantasievollsten Bilderideen komponiert. Und seine Schauspieler brillieren allesamt. Allen voran Joaquin Phoenix, der wirklich alles gibt, in allen Tonlagen der Nöte und Bedrängnis. Quasi der Gegenentwurf zu seinem „Joker“, der ihm vor zwei Jahren den Oscar einbrachte und in dem irgendwann alle aufgestaute Wut herausplatzte. Hier scheint Phoenix sich ganz in sich selbst verkriechen zu wollen. Eine Wahnsinnsperformance in einem Wahnsinnsfilm.
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Aber da Aster immer noch eine Wendung hinzufügen und noch eine Absurdität draufpacken muss und sich all das über ambitionierte drei Stunden hinzieht, fordert er sein Publikum. Und überfordert es auch. Wie persönlich ist diese Höllenfahrt zu nehmen? Ist es nicht allzu einfach, eine Übermutter für alles verantwortlich zu machen? Und kann man im Kino den Teufel mit dem Beelzebub austreiben?
„Beau Is Afraid“ 180 Minuten, ab 16 Jahren, läuft in den Kinos Abaton, Koralle, Studio, Zeise