Hamburg. Der Künstler vereinte 12.000 Fans in der Barclays Arena und führte durch Stimmungen von melancholisch bis enthusiastisch.

„Das wird ein Abend für die Geschichtsbücher“, sagt ein Mann im Publikum. Ob das so ist, soll später entschieden werden. Jedenfalls, was sehr schön ist: Diese emotionale wie euphorische Show in der ausverkauften Barclays Arena beginnt und endet damit, all den Orten zu huldigen, ohne die Hamburger Musikgeschichte überhaupt nicht denkbar wäre. Ein Hoch auf die kleinen Bühnen, wo Großes beginnt.

Der Berliner Singer-Songwriter Philipp Dittberner erzählt im Vorprogramm, dass er seine besten Konzerte in Hamburg erlebt hat. In Clubs wie dem Knust und dem Uebel & Gefährlich. „Und jetzt spiele ich in dem größten Bumms, den die Stadt zu bieten hat“, ruft er sympathisch-hemdsärmelig in die Halle.

Johannes Oerding wiederum, wegen dem die rund 12.000 Fans vorfreudig angereist sind an diesem lauen Frühlingsabend, fordert am Ende seines gut zweieinhalb stündigen Konzerts dazu auf, immer wieder auch in die ganz kleinen Läden zu gehen und den jungen Bands zuzuhören. Heftiger Jubel brandet auf.

Johannes Oerding: Die Powerballade gibt den vollen Schub an Gefühl

Wie überhaupt Oerdings Hamburger Heimspiel ein wuchtiger wie berührender Beweis dafür ist, wie einzigartig Livemusik ist. Das Mitsingen. Das Miteinander. Die ausgedehnten und im Überschwang kaum enden wollenden Versionen der Lieder. Und vor allem all das Dazwischen, das auf einem Album und in den Playlisten nicht zu spüren ist. Das ungesagt bleibt.

Denn Oerding führt in seinem Konzert nicht nur meisterhaft durch Stimmungen von melancholisch bis enthusiastisch. Er zeigt sich zwischenzeitig auch als regelrechter Sabbelkönig. Kalauer und Klönschnack, Nachdenkliches und Wahrhaftiges. Mit einem Knall und der Nummer „Kaleidoskop“ startet der Deutschpop-Künstler seinen Auftritt. Als wolle er direkt alles erfassen und mit allen Kontakt aufnehmen, läuft Oerding die Bühne in ihrer gesamten Breite ab.

Von Zweifel und Neuanfang erzählt diese Powerballade, die seine vierköpfige Band mit reichlich Verve nach vorne bringt. Sofort gibt es den vollen Schub an Gefühl. Sofort sind die Arme oben. Sofort ertönt die Menge im Chor. Oerding steht im Lichtkegel. Lässiger Look in Schwarz. Dreitagebart und Tattoos. Der markante Hut und darunter ein bewegter Blick.

Oerding hatte „lange nicht mehr so wacklige Knie“

Der 41-Jährige pustet dick durch die Backen angesichts der Masse Mensch, die ihm da zujubelt. Also Augen auf und durch mit dem „Plan A“. Mit der impulsiven Aufforderung, beherzt loszugehen. „Hamburg, ich hatte schon lange nicht mehr so wackelige Knie“, sagt der Musiker. „Aber die sind jetzt weg.“ Dann lieber schnell darüber amüsieren, wie alt alle doch geworden sind. Inklusive ihm selbst.

Johannes Oerding genießt die jubelnden Massen.
Johannes Oerding genießt die jubelnden Massen. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Die Kamera zoomt ran, Oerding reibt sich genüsslich seine Augenfalten und wünscht sich einen „Max-Giesinger-Filter“. Aber ach. Wichtiger ist doch die Nähe, die Chemie. Weshalb sich doch bitte alle mal gegenseitig sagen sollen: „Du bist so schön. Seht ihr? Jetzt flimmert’s“, erklärt Oerding. Und dieses Flimmern, das bleibt.

Ob er nun mit „Was wäre wenn“ zum engagierten Handeln aufruft oder tief traurig das Vermissen besingt in „Diese Stadt ist einsam ohne dich“. Ein Leben verdichtet in Musik. Und Tiefschläge werden in einem Song kanalisiert. Etwa in dem amüsanten Hit „Traurig, aber wahr“, den Oerding kongenial in verschiedenen Stilen darbietet. Schließlich solle „die Presse“ nicht schreiben, er habe sich nicht weiterentwickelt.

Die letzten Songs werden zur ultimativen musikalischen Umarmung

Keine Sorge. Nun ist klar: Oerding kann Hans Albers ebenso wie H.P. Baxxter. Von schönster Albernheit geht es in kürzester Zeit hinein in zartbittere Empfindung. Mitten im Saal intoniert Oerding sein „Eins-zu-eins-Gespräch“. Eine Ode an seinen Vater. Eher erzählt als gesungen. Ein intensiver Höhepunkt. Langer Applaus.

Mit „Santa Fu“ kriegt der Entertainer dann aber schnell die Kurve hin zu „etwas Flottem“, wie seine Mutti sagen würde. Und mitten durch die Menge tanzend entfesselt er eine Mehrgenerationen-Medley-Party von „Macarena“ bis „Tanze Samba mit mir“. Da passt das rockig-epische „Anfassen“ im Anschluss perfekt: Oerding besingt die Sehnsucht nach dem Echten in digitalen Zeiten.

Doch das Reale und das Virtuelle sind längst verschränkt. Und die Smartphones, sie schnellen auch hoch beim Duett „Stärker“ mit Überraschungsgast Zeynep Avci. Wunderschön, ihr perlender Gesang. Und auch Oerding singt zur akustischen Gitarre einige Zeilen auf Türkisch. Die letzten Songs des Abends geraten schließlich zur ultimativen musikalischen Umarmung.

Johannes Oerding: Bei „Alles brennt“ rollen La-Ola-Wellen aus Handylichtern

Die soulige Kennenlernhymne „Ecke Schmilinsky“ inszeniert Oerding als Gospelgottesdienst mit stimmstarkem wie seelenvollem Chor seiner Fans. Bei „Alles brennt“ rollen La-Ola-Wellen aus Handylichtern durch die Arena. Und mit „An guten Tagen“ gibt der Künstler allen noch einmal eine Extraportion positive Energie mit auf den Weg.

Doch die Menge, sie will und will „ihren Johannes“ nicht ziehen lassen. Bei der Zugabe „Kreise“ geht Oerding noch einmal auf Tuchfühlung mit den ersten Reihen. „Ich will noch nicht nach Hause“ lautet die Devise. Zu dieser Kneipenballade lässt der Musiker zunächst nach und nach seine Band abgehen: Pianist Kai Lindner, Bassist Robin Engelhardt, Gitarrist Moritz Stahl und Schlagzeuger Simon „Sissi“ Gattringer.

Oerding bleibt alleine zurück. Er kippt ein Schnapsfläschchen, das er aus der Hosentasche zieht. Und nur zur akustischen Gitarre spielt er „Für immer ab jetzt“. Ein Abend für die Geschichtsbücher? Vielleicht. Auf jeden Fall ein Abend für die Livemusik.