Hamburg. Altes Stück, laut umgesetzt: Georg Münzel inszeniert den mehr als 155 Jahre alten Roman im Altonaer Theater mit Beatboxing-Effekten.

Wiesbaden, Bad Homburg, Baden-Baden – Städte, die zum Teil seit zwei Jahrhunderten für ihre Spielkasinos bekannt sind. Aber Roulettenburg? Den Ort gibt es bis heute nicht. Und doch hat Fjodor Michailowitsch Dostojewski seinen vor mehr als 155 Jahren unter enormem Zeitdruck und in materieller Not verfassten, besser gesagt diktierten Roman „Der Spieler“ in dieser fiktiven deutschen Stadt angesiedelt.

Die Frage, ob man diesen großen russischen Schriftsteller („Schuld und Sühne“, „Der Idiot“, „Die Brüder Karamasow“) anno 2023 spielen darf, sollte sich in einer freien demokratischen Gesellschaft niemand stellen. Die Frage ist nur, wie.

Altonaer Theater: „Der Spieler“ lässt tief in Abgründe schauen

Das Altonaer Theater, seit 17 Jahren dem Motto „Wir spielen Bücher“ verpflichtet, hat darauf nun eine neue, durchaus ungewöhnliche Antwort gefunden, wie die mit viel Beifall bedachte Premiere am Ostermontag zeigte.

Das betrifft weniger Sprache und Kulisse, wiewohl Ausstatterin Birgit Voß mit üppigen Kostümen und Perücken in einer mondänen Hotel- und Kasino-Kulisse im Stil des 19. Jahrhunderts ganze Arbeit geleistet hat. Der Tisch ist hier mindestens so lang wie in Putins protzigem Moskauer Präsidenten-Palast, jedoch nicht weiß, sondern aus braunem Holz und eckig. Und er bietet mehr Leben drumherum.

Wie in Dostojewskis Werken üblich, lässt auch „Der Spieler“ tief in menschliche Seelen mit Zwängen und Abgründen blicken. Hauptthema ist hier die Sucht, die Spielsucht. Die hatte den Autor lange Jahre wie eine Obsession beherrscht.

Nackte Verzweiflung der Familienmitglieder ist zu spüren

Der Ich-Erzähler namens Alexej Iwanowitsch (Jascha Schütz) ist Hauslehrer einer russischen Generalsfamilie, die sich im vornehmen Hotel einquartiert hat. Obwohl diese Sippe kein Geld hat, lebt sie auf großem Fuß und ist in täglicher Erwartung einer üppigen Erbschaft. Fast permanent schicken der General (Dirk Hoener) und Co. Telegramme nach Moskau, stets verbunden mit der Frage nach dem Gesundheitszustand der reichen Erbtante.

Schon hinter diesem Aktionismus ist die nackte Verzweiflung der Familienmitglieder zu spüren. Alexej liebt zudem Polina (Isabella Victoria Ginocchio), die Tochter des Generals, ohne zu wissen, ob sie seine Gefühle erwidern wird. Doch er soll ihr am Roulette-Tisch das dringend benötigte Geld verschaffen.

Beatboxing als Kontrast zur altertümlichen Übersetzung

Regisseur Georg Münzel („Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, „Alle Toten fliegen hoch – Amerika“) hat für seine Bühnenfassung nicht nur erneut mit Ausstatterin Voß gearbeitet. Mit Dirk Hoener und Guido Höper hat er ebenso für die musikalische Einrichtung gesorgt.

Die steht mit Beatboxing (Höper) und dem häufigen Einsatz eines Handmikrofons (etwa für Höper als Croupier) bewusst im Kontrast zur altertümlichen deutschen Übersetzung inklusive des vornehmen Französisch.

Die technisch verstärkte Geräuschkulisse ist im Lauf der gut zweieinhalbstündigen Inszenierung manchmal etwas zu viel des Modernen. Und laut bis sehr laut, immer wieder brüllend gibt Hoener auch ohne Mikro den überheblichen, ichbezogenen General. Oder er zupft – auch nicht zum ersten Mal am Rand der Altonaer Bühne – seine E- oder Akustik-Gitarre.

Theaterpreis-Träger Jascha Schütz beherrscht die große Bühne

Überhaupt nutzt Münzel unter Einbeziehung des Publikums den ganzen Theatersaal. Hauslehrer Alexej etwa kommt vom rechten Gang im Parkett, ehe er den Spielsaal auf der Bühne betritt. Jascha Schütz, im Vorjahr mit dem Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares in der Kategorie „Herausragende Darstellung“ für Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ im Theater das Zimmer in Horn ausgezeichnet, zeigt, dass er auch die große Bühne beherrscht.

Schütz, der Shooting-Star unter den Hamburger Theaterschauspielern, verleiht seiner extremen „Spieler“-Figur immer wieder zutiefst menschliche Züge. Eine reife Leistung. Überzeugend spielt er den Verzweifelten, den Zerrissenen, den Getriebenen. Und wie viele männliche Helden Dostojewskis erniedrigt sich sein Alexej vor der geliebten Frau, bis sich die Demütigung schließlich in Aggression verwandelt. Sein Verhältnis zu Polina birgt ständig Zündstoff.

Im Altonaer Theater sind im Spiel um Liebe, Sucht und Geld alle Verlierer

Gleiches gilt für den Auftritt der reichen Erbtante. Als solche wird Jacques Ullrich unverhofft vom linken Gang im Parkett an die Rampe geschoben und von einem Teil des achtköpfigen Ensembles im Rollstuhl auf die Bühne gehoben. Ein tragikomischer Höhepunkt des ersten Teils.

Wenn der Tante dann beim Kurven um den langen Spieltisch alle hinterherlaufen, ist das ein sinnhaftes Bild für die – mit Verlaub – Geldgeilheit ihrer Verwandten und eine treffende Übertragung ins gesellschaftliche Hier und Heute. Auch dieses „Großmütterchen“ wird beim Roulette alles verspielen und verlieren.

„Rien ne va plus“? In der Typologie der Glücksspieler, männliche wie weibliche, gewinnt die attraktive halbseidene Blanche, Flamme des Generals, im zweiten Teil noch überraschend Konturen. Valerija Laubach kann als Frau, der die Verachtung ihrer Mitmenschen egal ist, auch mit Gesang glänzen. Doch eine Verliererin in diesem Spiel um Liebe, Sucht und Geld ist auch sie. Wie alle.

„Der Spieler“ wieder Do 13.4., 19.30, bis 14.5., Altonaer Theater (S Altona), Museumstr. 17, Karten zu 20,- bis 43,-: T. 39 90 58 70; www.altonaer-theater,de