Hamburg . Pandemie, Inflation und Energiepreisschock belasten die Branche. Und doch geben sich die Akteure der Szene kämpferisch.
Theater, Kinos und Konzerthäuser erleben schwere Zeiten – zwar ist die Pandemie vorbei, doch noch immer klagen die meisten Veranstalter, dass die alten Zahlen noch nicht wieder erreicht wurden. Zweieinhalb Jahre Corona haben das Land und die Gesellschaft verändert, manche entscheiden sich kurzfristiger bei der Abendgestaltung, manche sind kulturell entwöhnt und wieder andere der magischen Klebekraft der heimischen Couch erlegen. So beschreibt Ohnsorg-Intendant Michael Lang die ansteckende Stubenhockerei.
Wohin also steuert die Hamburger Kultur? Unter diesem Motto haben die BAT Stiftung für Zukunftsfragen und das Hamburger Abendblatt zu einem Runden Tisch geladen. Dabei zitierte Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt, der Leiter der Stiftung, aus einer repräsentative Umfrage. Demnach gräbt das Internet klassischen Kulturangeboten das Wasser ab: Mittlerweile nutzen mehr als zwei Drittel jede Woche Streaming-Angebote.
Kultur in der Krise: Seit der Pandemie schauen viele Serien
Der Anteil der Menschen, die in ihrer Freizeit Serien schauen, hat sich zwischen 2019 und 2022 von 37 auf 67 Prozent verdoppelt. „Die Attraktivität medialer Freizeitangebote, die bequem und kostengünstig vom heimischen Sofa konsumiert werden können, setzt sich fort“, sagt Reinhardt. „Ausgegangen wird vor allem dann, wenn es sich um Highlights handelt.“
So sinkt zwar nicht die Zahl der Kulturinteressierten, aber die Zahl ihrer Besuche. „Die Menschen gehen nach wie vor ins Theater oder Kino, nur seltener. In Zukunft könnten 50 Prozent Auslastung das neue Ausverkauft sein“, meint Reinhardt.
Kultur braucht vielleicht bald mehr Sponsoren
„Das hat Konsequenzen für die Finanzierung: Kulturattraktion werden sich nicht mehr primär über Eintritte finanzieren, sondern eher über Förderung, vor allem über Sponsoring.“ Das werde auch für Unternehmen im Sinne des Standort-Marketings relevant.
Ulrich Waller, künstlerischer Leiter des St. Pauli Theaters, kommentierte diese Zukunftsprognose so kurz wie dramatisch: „Damit wäre unser Geschäftsmodell erledigt. Mit 50 Prozent Auslastung bei 520 Plätzen ergibt unser Theater ökonomisch keinen Sinn mehr.“ Bislang habe das Traditionshaus an der Reeperbahn rund 80 Prozent der Kosten selbst eingespielt. „Während der Pandemie sind die Einnahmen fast komplett weggebrochen.“ Ausdrücklich dankte er der Kulturbehörde und dem Bund, „die uns durch diese schwere Zeit getragen haben“.
Sogar die Elbphilharmonie spürt Besucherrückgänge
Langsam erholt sich die Nachfrage wieder. „Erst jetzt, auch dank der ,Dreigroschenoper‘ und ,Das perfekte Geheimnis‘ liegen wir wieder bei 90 Prozent Auslastung. Das ist für die Schauspieler, die vor vollen Rängen spielen, wie ein kleiner Rausch.“ Waller ärgert sich noch immer über die angstgetriebene Corona-Politik in Deutschland. „Zu der Misere hat auch die aggressive Politik von Herrn Lauterbach und Co beigetragen, die Leute haben sich nicht mehr rausgetraut. Trotzdem bin ich sicher, das Gemeinschaftserlebnis Theater wird wiederkommen.“
Sogar die Elbphilharmonie spürt Besucherrückgänge: „Es normalisiert sich. Es ist nicht mehr wie früher, als jede Veranstaltung ausverkauft war“, sagt Christoph Lieben-Seutter, Generalintendant der Laeiszhalle und Elbphilharmonie. „Das waren einerseits paradiesische Zustände, andererseits aber auch nicht wirklich gesund für die Programmmacher und Künstler. Jetzt sind wir endlich ein normales Konzerthaus, in dem das Preis-Leistungs-Verhältnis eine Rolle spielt.“
In der Elbphilharmonie gibt es sogar oft noch Karten an der Abendkasse
Die Pandemie ging nicht spurlos am Wahrzeichen vorüber: War der Große Saal in den vergangenen Monaten noch zu mehr als 90 Prozent ausgebucht, lagen der kleine Saal und die Laeiszhalle mit einer Auslastung von 75 bis 80 Prozent darunter. Die auffallendste und nachhaltigste Veränderung seit Corona sei, dass die Menschen sich viel kurzfristiger für einen Besuch entscheiden. „Bei uns hat man jetzt die Chance, noch an der Abendkasse Karten zu bekommen“, sagt Lieben-Seutter. Ihn stimme positiv, dass die Elbphilharmonie ein großes Stammpublikum hat: „Die Wiederholungstäter sind zahlreich. Daher schauen wir frohgemut in die Zukunft.“
Schwere Zeiten liegen auch hinter der Stadtteilkultur. Die St.-Pauli-Kirche veranstaltet am Pinnasberg viele Konzerte, Lesungen und Gesprächsrunden. Dann kam Corona. „Es war furchtbar“, sagt Sieghard Wilm, Pastor an der Kirche. Sehr viele Veranstaltungen im Gotteshaus lebten von Spenden, vom spontanen Kommen. „Die Corona-Regularien waren für unser Publikum ein großer Hemmschuh“, so Wilm. Plötzlich waren Anmeldelisten und feste Plätze vorgeschrieben – schwer umzusetzen etwa bei einer interkulturellen Jamsession.
Wenn nicht einmal hochkarätige Musiker Publikum anziehen
„Oder stellen Sie sich vor, da kommt eine kurdische Familie, und der Großvater hat seinen Impfnachweis zu Hause vergessen. Dem Opa können sie einfach nicht den Eintritt verwehren. Unsere Kirche ist nicht nur für Christenkinder, sondern für alle da“, betont der 57-Jährige. „2022 war noch nicht das Jahr der Erholung“, konstatiert er.
Nicht einmal hochkarätige Musiker hätten richtig gezogen. „Wir hatten vor Corona einen Mittelwert von 100 Besuchern am Abend. Davon sind wir noch sehr weit entfernt.“ Mit Sorgen beobachtet Wilm, dass es gerade bei manchen Älteren eine Zäsur gab. Sie seien bislang nicht alle zurückgekommen.
Carsten Broda ist optimistisch
Einbußen beklagt auch Sonja Engler, Geschäftsführerin der Zinnschmelze in Barmbek und Vorsitzende des Dachverbands Stadtkultur Hamburg: „Die Pandemie war eine schwere Zeit für uns. Die Auslastung spielt auch bei uns eine Rolle – nicht nur wegen der Eintrittsgelder, sondern auch der Atmosphäre. Es ist bitter, wenn man ein super Konzert veranstaltet, und dann kommen nur wenige Menschen.“ Engler betont die Wichtigkeit des Angebots für die Stadtteile: „Unsere Arbeit dreht sich nicht nur um Unterhaltung, uns geht es um gemeinsame Prozesse, um Teilhabe, ums Mitmachen.“
Immerhin spürt sie einen Aufwärtstrend: „Mittlerweile bin ich wieder hoffnungsvoller.“ Optimistisch ist Kultursenator Carsten Brosda: „Wir sehen bei den Besucherzahlen einen stabilen Trend nach oben. Viele große Häuser liegen wieder über 80 Prozent Auslastung.“ Er verweist dabei auf Sondereffekte durch ein „deutlich aufgeblasenes Marktvolumen im letzten Jahr“.
Das Internet könne ein Live-Erlebnis nicht ersetzen
So seien Teile der Abonnements ausgesetzt gewesen, wodurch mehr Karten in den freien Verkauf gingen. Hinzu kamen die nachgeholten Veranstaltungen, die schon vor der Pandemie angesetzt worden waren. Und zum Dritten hat die Politik mit ihren Hilfen die Einrichtungen dabei unterstützt, das Angebot auszuweiten. „In einigen Bereichen des Konzertgeschäfts war das Angebot dreimal höher als vor der Pandemie, da haben es Einzelveranstaltungen natürlich schwer.“
Inzwischen normalisiere sich das Angebot – und damit steige automatisch die Auslastung. Es geht aber nicht nur um Auslastungszahlen: Der Genuss eines Theater- oder Konzertabends hat durch die Corona-Regeln gelitten. „Kultur erinnerte in den vergangenen Jahren eher an einen Sicherheitscheck am Flughafen als an ein sinnliches Erlebnis. Das ist jetzt wieder anders.“ Der Kultursenator sieht die Konkurrenz durch das Internet entspannt: „Ein Live-Erlebnis ist etwas anderes als ein Digitalerlebnis. Spotify mag die CD ersetzen, aber nicht das Konzert. Menschen im Publikum erleben etwas gemeinsam; das geht so weit, dass sich sogar ihre Herzfrequenz angleicht. Wir sind Herdentiere. Unser Wohlfühlabstand ist kein leerer Platz neben uns, sondern wir wollen voll besetzte Reihen.“
Kultur und Tourismus gehen Hand in Hand
Ein wichtiger Faktor für die Hamburger Kultur ist der Tourismus. „Die Erholung ist fulminant“, sagt Michael Otremba, Geschäftsführer der Hamburg Tourismus GmbH. Inzwischen hat Hamburg sein Vor-Corona-Niveau fast erreicht. „Nur wenige Metropolen in Europa haben sich so schnell gefangen.“
Wer sich für eine Reise entschieden habe, bleibe eben nicht auf dem Sofa sitzen, sondern habe Lust auf Kultur. „Es gibt eine unglaubliche Sehnsucht nach dem Gemeinschaftserlebnis. Das Schlimmste in der Pandemie war die soziale Isolation. Der Hunger nach Erlebnissen ist da. Nur Mittelmäßigkeit langweilt. Wir brauchen starke Angebote. Und ich kenne kaum eine Stadt, die so einen Reichtum an Kontrasten bietet wie Hamburg.“
20 Prozent der Besucher in der Elbphilharmonie sind Touristen
Otremba verweist auf die Stärken des Standorts: „Wo gibt es eine Stadt, die ein Gebäude wie die Elbphilharmonie hat? Sydney vielleicht, sonst fällt mir wenig ein. Und wo gibt es eine Stadt mit einer solch lebendigen Clubkultur?“ Trotzdem zeigen die Zahlen, dass der überwiegende Teil der Gäste aus der Metropolregion kommt. Bei der Elbphilharmonie kommen rund 80 Prozent der Besucher aus der Stadt und dem Umland, Touristen machen rund 20 Prozent aus.
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Wie stark s etzen Inflation und knappe Kassen der Kulturbranche zu? Brosda verweist darauf, dass die Entertainment-Ausgaben der Menschen sich umverteilt haben: Wer Spotify, Netflix, Amazon Prime und Disney abonniert habe, zahle schnell bei 40 Euro. Offenbar scheitert die Lust auf Kultur bislang kaum an den Kosten. „Karten für das Wochenende, wenn die Preise am höchsten sind, verkaufen sich als Erstes. Und die Tage mit den günstigen Tickets verkaufen sich zum Schluss“, berichtet Theater-Leiter Waller.
Der Krieg in der Ukraine hat Auswirkungen auf die Ticketverkäufe
„Die Leute schauen mehr aufs Geld – aber da, wo sie sich etwas gönnen wollen, geben sie es aus“, sagt Lieben-Seutter. Er macht einen anderen Trend aus: „Die Nachrichtenlage hat Einfluss auf das Publikumsinteresse. Wenn sich in den Nachrichten Meldungen über Krieg, Inflation und Corona häufen, gehen die Verkäufe runter. Da legt sich eine Niedergeschlagenheit über die Stadt – und zwei Wochen später erkennen die Menschen, dass das Leben weitergeht, und kaufen wieder.“
Auch Brosda bestätigt, dass der Krieg in der Ukraine die Stimmung in der Kultur belastet. „Zu Beginn des vergangenen Jahres gab es eine Aufwärtsbewegung, die am 24. Februar endete. Ausgerechnet in dem Moment, als alle loslegen wollten, kam die nächste Krise.“
Hilfreich war, dass viele Häuser in den vergangenen Monaten mit ihrem Publikum in engem Kontakt blieben. „Während dieser Phase ist eine Nähe entstanden. Wir müssen gerade in den Krisen zeigen, dass Kulturorte Hoffnungsorte sind. Es wäre das Schlimmste, wenn wir die Misere, die wir in der Welt erleben, noch in Theatern und Konzertsälen doppeln. Wir müssen gerade jetzt Räume schaffen für eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt.“
Veranstalter leiden unter der schweren Planbarkeit
Otremba sieht das ähnlich: „,Der König der Löwen‘ läuft unbeeindruckt weiter. Die Leute fühlen sich dort wohl und tauchen in eine Welt ein, in der sie für ein paar Stunden Putin und Corona mal vergessen können.“ In der Krise suchen die Menschen Zuflucht im Bekannten, im Vertrauten. Waller stellt fest, dass es „unbekanntere Namen und schwierigere Themen heute viel schwerer haben als vor der Pandemie“. Deshalb müsse man die Leute zunächst einmal mit intelligenter Unterhaltung zurückholen. Zugleich sagt der Intendant des St. Pauli Theaters: „Die Erfahrung haben wir allerdings schon vor der Pandemie gemacht: Jede Aufführung sucht sich ihr eigenes Publikum. Und wir kommen immer wieder zum selben Ergebnis: Der Altersschnitt der Schauspieler auf der Bühne trifft zuverlässig den Altersschnitt im Publikum.“
Noch ein Problem treibt derzeit viele Veranstalter um – sie leiden unter der Kurzfristigkeit und dadurch schweren Planbarkeit von Veranstaltungen. Weil sich Zuschauer oft spontan entscheiden, fällt der Vorverkauf als wichtiger Gradmesser aus – es ist im Vorfeld kaum abzuschätzen, was funktioniert. Zugleich steigt das Risiko, weil ein Konzert oder Auftritt kurzfristig nicht ohne finanzielle Einbußen abgesagt werden kann. „Die Menschen kaufen später, weil sie über zwei Jahre lang erlebt haben, dass keiner weiß, ob eine Veranstaltung stattfindet.
Hamburg bleibe trotz allem Kulturhauptstadt
Wir haben nun eine Generation Abendkasse“, sagt Kultursenator Carsten Brosda. „Damit müssen die Veranstalter permanent ins Risiko. Darunter leiden gerade die Clubs. Deshalb haben wir die Wirtschaftlichkeitshilfen, die es bisher über den Bund gab, noch mal um ein halbes Jahr bis Ende Juni verlängert.“
Die Live-Entertainment Branche hat es härter getroffen als jedes andere Branche – die Umsatzausfälle betrugen bis zu 95 Prozent. So hoffen alle am Runden Tisch auf den Nachholbedarf an Kultur.
Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt sieht erhebliches Potenzial. „Laut Umfrage unter den Nichtbesuchern wollen in diesem Jahr 31 Prozent wieder ins Theater, 41 Prozent wieder ins Museum und 44 Prozent wieder ins Konzert gehen.“ Ohnehin bleibe Hamburg bei allen Diskussionen Kulturhauptstadt. „Wir gehen öfter ins Theater, öfter ins Kino, besuchen häufiger ein Museum, sind häufiger in den Clubs als Bewohner anderer Städte.“
Darauf lässt sich bauen.