Hamburg. Oscar-Preisträgerin Cate Blanchett brilliert in „Tár“. Der Film ist ein aktuelles Nachdenken über Moral, Macht und ihren Missbrauch.

Wohin, Maestro?” „Egal, ich werde überall gebraucht!“ Die erste kurze Filmszene in „Tár“ erinnert an diesen Witz über die Dirigenten-Legende Herbert von Karajan. Der war nicht nur ein genialer, geliebter, gefürchteter Musiker und Strippenzieher. Er war auch ein Pult-Tyrann, der sich als allmächtig und allgegenwärtig inszenierte.

Ein Orchester-Beherrscher sehr alter Schule, der Porsche fuhr und sein Herrschafts-Bild für die Welt penibel kontrollierte. Jetzt also sieht man Cate Blanchett als Pult-Star Lydia Tár in einem Handy-Video. Übernächtigt in einem Privatjet zusammengesackt, auf dem Flug von Berlin nach New York.

Ah ja, einer dieser weihrauchschwenkenden Kino-Gottesdienste für ein Genie wird das also, das kann und soll das Publikum da noch glauben. Einer dieser Veredelungs-Filme über ein glamouröses Kunstheldinnen-Leben. So pausenlos wie selbstlos im Einsatz für das Schöne, Gute, Wahre. Zuhause auf einem perfekt möblierten Gipfel der Klassik-Branche, die es so dick vergoldet längst nicht mehr gibt. Wären da nicht diese gehässigen Kommentare, die wie Giftpfeile durch das Smartphone-Bild huschen.

Lydia Tár – ein einschüchternder Lebenslauf

Tár selbst – von Regisseur Todd Field, der Blanchett sein Drehbuch auf den Leib schrieb, überwältigungsgroß charismatisch erfunden – scheint einer dieser Opus-Markenartikel zu sein, die für ihre Vermarktung bis in die Haarspitzen arrangiert sind. Lydia überlegt in ihrem brutalistischen Maestro-Palast anhand der LP-Coverfotos berühmter Referenz-Aufnahmen, wie sie für ihre Einspielung von Mahlers Fünfter fotografiert werden möchte.

Die letzte Sinfonie dieses Komponisten, die ihr noch im Dirigentinnen-Diadem fehlt. Wie Leonard Bernstein cäsarisch die Schokoladenseite zeigen? Oder lieber wie dessen Gegenteil Claudio Abbado versonnen in die Partitur hineingrübeln?

Ihr einschüchternder Lebenslauf: Blitzkarriere und Überfliegerin, Pianistin, nebenbei Komponistin und Musikethnologin, langjährige Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker und außerdem eine von nur 15 EGOTs; sie hat Emmy, Grammy, Oscar und Tony mit ihrer Kunst und ihrem Ego abgeräumt.

Cate Blanchett spielt das Da-Sein einer Dirigentin sensationell gut

Ihren Porsche fährt Tár, politisch korrekt, elektrisch. Sie joggt nicht bloß, sie rast auf jedes Ziel und jedes Hindernis zu. Ihre Frau Sharon (Nina Hoss, auf Augenhöhe mithaltend) ist gleichzeitig die Konzertmeisterin „ihres“ Orchesters. Sie leben eine „power couple“-Arbeitsbeziehung, mit einer adoptierten Tochter als Upgrade, die auch schon ihre Stofftiere zum Orchester sortiert.

Wo diese Tár ist, ist immer weit oben und vorn. Anfangs kann Tár mit einer Fingerspitze noch ein Orchester dressieren und die Zeit anhalten. Und sie soll es ganz sauber und moralisch unzweideutig dorthin geschafft haben. Bis das alles – selbstverschuldet und brutal abstürzend – nicht mehr so ist.

Das Tolle an „Tár“ vorneweg: Cate Blanchett spielt, versteht und verkörpert die Welt und das Da-Sein einer Dirigentin sensationell gut. Auf ihrem eigentlichen Arbeitsplatz übertreiben und überzeichnen sie und Field es allerdings oft mit der Allmachts-Inszenierung auf dem Schlachtfeld der Gefühle.

Blanchett ist als beste Hauptdarstellerin für den Oscar nominiert

Anfangs, als die Dirigentin einem echten „New Yorker“-Starjournalisten noch pointensicher und cool ihren Job erklärt, hätten nur Blanchetts Hände schon eine Oscar-Nominierung verdient; inzwischen ist die gesamte Australierin als beste Hauptdarstellerin nominiert, es wäre ihr dritter Oscar.

Blanchett hat Deutsch gebüffelt, Klavier geübt und sich eine sehr energische Schlag-Technik draufgeschafft, als wäre sie Robert De Niro in seinen virilsten Method-acting-Jahren. „Tár“ ist in Schwergewicht-Kategorien für sechs Oscars im Rennen, als große Konkurrenz für „Im Westen nichts Neues“, eine ganz anders geartete Klassiker-Verfilmung von Netflix.

In einigen Monaten wird der Streaming-Dienst mit einem Biopic über Bernstein nachlegen, eine reale, historische Lichtgestalt mit entsprechend vielen Schatten. Kurz vor Ende des Dramas in „Tár“, eine Katastrophe später, erzählt Blanchetts Gesicht in Großaufnahme, wovon der Film konsequent schweigt: von der jungen Lydia und ihren Sehnsüchten, bevor die vielen Prestigeposten-Träume wahr wurden.

In Lydias Kleinstadt-Elternhaus, in ihrem Kinderzimmer stapeln sich im Kleiderschrank VHS-Kassetten mit den „Young People’s Concerts“, bei denen Bernstein Kinder mit Klassik bezauberte. So menschlich wollte sie immer werden, so nah wollte Lydia anderen immer kommen. Noch ein Oscar-Moment.

Lydia Tár: Sympathisch ist diese Musikerin nun wirklich nicht

Doch sympathisch, durch und durch, das ist diese Musikerin nun wirklich nicht. In einer Masterclass filettiert sie mit wenigen Sätzen einen als überwoke und genderfluide karikierten Studenten, der echt nicht so sehr auf die Musik des alten weißen cis-Manns Johann Sebastian Bach steht.

Identitätsfragen, die ihr nicht in den Terminkalender oder den eigenen Masterplan passen, werden hinter den Kulissen niedergemäht, obwohl sie öffentlich als Anwältin für Vielfalt auftrumpft. Ungeliebte serviert Tár eiskalt ab. Geliebte dagegen – das raunt zumindest der Film, ohne es konkret zu zeigen – benutzt, belohnt und befördert sie, nach Lust und Laune. Weil sie es will und weil sie es kann.

Diese Andeutungen häufen sich. Was war da wirklich los mit der jungen schönen Stipendiatin in New York, die Selbstmord begangen hat? Es gibt viele belastende Mails, die hektisch gelöscht werden müssen. Wie eng – oder schon zu eng – ist Tár mit ihrer emsig devoten Assistentin, die sich Hoffnungen auf den Assistenz-Posten bei den Berlinern macht, der frei wird, weil Tár die vom Vorgänger geerbte Altlast, einen alten weißen Mann, gnadenlos rausekelt?

Und dann ist da noch die junge russische Cellistin, stark gespielt von Sophie Kauer, die Tár schon vor dem Bewerbungs-Vorspiel gefällt und die am Tutti und der eigenen Solo-Cellistin vorbei als Solistin ins nächste Konzertprogramm gehievt wird. Alles guter Treibstoff für den Plot, der die Schilderung dieses Paralleluniversums ansonsten mit Liebe zu wahren Details garniert. Dass die Berliner Philharmonie mitsamt Philharmonikern von den Dresdnern in Dresden gedoubelt wird, ist eine kuriose Nebensache.

Je rasanter Lydia Társ Absturz, desto größer das Durcheinander

Am Rande, aber deutlich genug, werden andere, echte, ähnliche Vorfälle als Bezugspunkte erwähnt, wie etwa das Karriere-Aus von James Levine, der Jungen und Männer sexuell missbraucht haben soll und als Chefdirigent der New Yorker Met 2018 rausflog, nachdem jahrelang von allen laut getuschelt und dennoch alles geduldet wurde.

Auch Plácido Domingo wird kurz erwähnt. Je mehr Tempo Társ Absturz ins Bodenlose zulegt, desto größer wird das Durcheinander der Argumente und Positionen zu diesen Problemfällen. „Tár“ zielt damit auch auf die Gegenwarts-Gesellschaft, in der schon ein nur irgendwie zusammengeflickter Post das Internet zum Durchdrehen bringen kann, ohne halbwegs echt oder gar wahr sein zu müssen.

Lydia Tár: Heiligt und entschuldigt Musik als Resultat jedes Mittel?

Immer klarer wird, dass dies kein reiner oder gar klassischer Musik-Film ist, sondern ein aktuelles Nachdenken über Moral, Macht und ihren Missbrauch, über Identitätsfragen, Cancel Culture und #MeToo. Ja, die Vorspiele für die begehrten Orchester-Stellen finden hinter Sichtschutz statt, um nur das Ohr entscheiden zu lassen. Am Ende ist es aber eben doch nicht so. Ja, die als verknöchert und elitär geltende Branche bemüht sich um mehr einladenden Anschluss ans Jetzt und um mehr Diversität.

Doch am Ende hat eben doch immer nur einer – hier: eine – das Sagen. Selbstbestimmung? Nur, wenn die Chefin nicht auf andere Dinge als hin und wieder etwas Schaufenster-Demokratie steht. Künstler bleiben Künstler und Chefs bleiben Chefs, ob mit Taktstock oder ohne, ob Mann, Frau oder anderes. Aber heiligt und entschuldigt ihre Musik als Resultat jedes Mittel? Das sind so die großen, nicht einfachen Fragen.

Mit dieser Rolle fügt Cate Blanchett ihrem Werkkatalog einen weiteren Höhepunkt hinzu. Der Film zu dieser Leistung ist eine komplexe Partitur, mit vielen Widersprüchen und Fragezeichen.

„Tár“ (158 Minuten) läuft am 2.3. an, u.a. im Savoy und im Koralle. Album: „Tár“ (Music inspired by the movie). Werke von Mahler, Guðnadóttir und Elgar / Probenmitschnitte von Blanchett mit den Dresdner Philharmonikern (DG, CD ca. 19 Euro, LP ca. 30 Euro).