Hamburg. Echt oder virtuell? Auf der kleinen Kiezbühne treffen leibhaftige Musikerinnen auf Hologramme und Dirigent Hengelbrock schaut zu.

Der Chef sitzt in Reihe fünf. Thomas Hengelbrock hat zwar das Balthasar-Neumann-Orchester, das bis vor kurzem als Balthasar-Neumann-Ensemble firmierte, einst gegründet und steht ihm bis heute vor, aber an diesem Abend überlässt er das Dirigentenpult dem eine Generation jüngeren Duncan Ward. Auch das Orchester ist deutlich jünger besetzt, als man es sonst von den Konzertbühnen gewohnt ist. Das ist schon für sich eine Ansage: Hier im St. Pauli Theater geht es um nicht weniger als die Zukunft der sogenannten klassischen Musik.

Ein Sinfonieorchester – ein kleines, mehr ginge auch gar nicht auf der kuscheligen Bühne – trifft auf ein Schlagzeugquartett. Soweit, so normal. Aber die vier Jungs von Repercussion haben für das Programm „Posterity“ nicht nur Werke arrangiert, sie bringen auch digitale Mittel mit ein. Da fliegen dem mit der bürgerlichen Präsentationsform Konzert sozialisierten Hörer die Dimensionen nur so um Ohren und Augen.

Balthasar-Neumann-Orchester mit raffiniert verknoteten Rhythmen

„Attraction“ von Emmanuel Séjourné erzeugt mit Regenrohr und Seufzern von Geige und Trompete Dschungelatmosphäre und geht plötzlich in einen Teil voll raffiniert verknoteter Rhythmen über, ein wahres Fest für die zahlreichen Schlaginstrumente. Das Orchester wirft nur hier und da etwas ein, aber dann erscheint auf dem Gazevorhang, der die Bühne vom Auditorium trennt, das Bild einer Geigerin, die – im Duett mit einer weiteren Geigerin hinter dem Vorhang – die süßesten Melodien schluchzt.

Hologramme treffen auf leibhaftige Musikerinnen, Instrumente aus Holz und Metall auf Elektronik, Live-Klänge auf vorproduzierte. All das verbindet sich zu einem so hinreißenden wie schwindelerregenden Ganzen. Immer dreht sich die Schraube noch ein wenig weiter.

Klangblöcke als Ausdruck der Trauer um die Corona-Toten

Michel Laurello hat in „A Matter of Indescribable Heartbreak“ seine Trauer um die Toten der Pandemie verarbeitet. Er setzt Klangblöcke gegeneinander, während auf dem Vorhang Kacheln mit einzelnen Musikern erscheinen wie eine Reminiszenz an den Eroberungszug der Videokonferenz. Erschütternd, wie weit diese Zeit schon zurückzuliegen scheint, seit R ussland die Ukraine überfallen hat.

Bei Arvo Pärt und John Psathas verschieben sich unter den Klangflächen dezent die rhythmischen Muster, und dazu bewegen sich unablässig die Grafiken der Videoprojektion. So entfaltet der Abend zunehmend hypnotische Wirkung, bis die Grenze zwischen echt und virtuell in der Wahrnehmung verschwimmt.

Am Text von Mari, der virtuellen Moderatorin, ließe sich noch arbeiten, der wechselt allzu übergangslos von naiv-distanzloser Bewunderung zu Programmheft-Sprech. Aber das macht ja Zukunftsoffenheit aus: Entwicklung gehört dazu.