Hamburg. NDR-Chefdirigent präsentierte zum Auftakt des Festivals für zeitgenössische Musik zwei ganz unterschiedliche Werke.

Die meinen das durchaus ernst. Nachdem Corona den ersten Anlauf für ein Festival mit ausschließlich zeitgenössischer Musik verunmöglicht hatte, ging es nun (und mit umso mehr verständlicher Selbsteuphorisierung) an den Start des „Visions“-Festivals in der Elbphilharmonie.

Anderthalb Wochen nur Frisches und Spezielles; nur Werke, die in dieser Stadt noch nicht zu hören waren, zukünftig als Biennale für neue Töne im Spielplan. In vorelbphilharmonischen Zeiten wäre das eine Schnellstraße in tiefrote Kartenverkaufszahlen gewesen, auch jetzt waren nicht wenige Sitze im Großen Saal leer. Nicht egal, aber kein Riesendrama, denn die, die da waren, waren sehr absichtlich und sehr aufmerksam dort.

Elbphilharmonie: „Visions“-Festival mit anspruchsvollem Programm

NDR-Chefdirigent Alan Gilbert und Intendant Christoph Lieben-Seutter haben sich die ideelle Erfolgs-Messlatte jedenfalls sehr hoch gehängt: Prominente Gastorchester vom Fach eingeladen, kompetente Solistinnen und Solisten, international breit gestreute Auftragsarbeiten, fast nur A-Avantgarde-Prominente auf den Programmen, straff und auch auf auditive Aha-Effekte im Konzertraum durchkuratiert.

„Es gibt einen Platz für solche Events“, betonte Gilbert bei seiner Begrüßung, „alles Stücke, an die wir wirklich glauben“. „Visions“ ist nicht zuletzt auch das Remake einer Idee, die Gilbert schon während seiner Zeit als Chef des New York Philharmonic entwickelt hatte.

Um die Nachdrücklichkeit und Nachhaltigkeit dieses Wollens zu verdeutlichen, soll es jedes Mal einen Preis der Claussen-Simon-Stiftung für ein noch junges Kompositionstalent geben, mit 15.000 Euro dotiert und durch die Uraufführungsadresse der großformatigen Orchester-Arbeit mit Aufmerksamkeits-Garantie in der Branche verziert. Bei der Premiere ging diese Auszeichnung an die schwedische Komponistin Lisa Streich, für ein sehr ehrgeiziges Stück, das den sehr assoziativen Titel „Flügel“ trug.

„Visions“-Festival in der Elbphilharmonie: Brett Dean spielt in einer anderen Liga

Soweit also die Theorie und der Plan. Die Wirklichkeit aber war wie das Abendprogramm: zweigeteilt. Denn es ist fast schon unfair, eine aufstrebende Komponistin mit einem derart versierten, mit allen Wassern der Aufführungs-Abenteuer gewaschenen Alleskönner wie Brett Dean zu kombinieren, der ein Vierteljahrhundert Erfahrungs-Vorsprung hat. Ganz andere Liga.

Streichs „Flügel“ collagierte viele Wirkungsversuche, den Apparat anders klingen zu lassen, ließ dabei aber Substanz und Stringenz vermissen. Effektspielereien wie das sanfte Verbiegen von Tonalitäten und Abläufen waren handelsübliche Experimente mit Selbstzweck-Aroma; das Gegeneinanderschichten von Kontrasten überschminkte die Suche nach Profil.

Gut hörbar – und warum auch immer – auf den „Tanz der Ritter“ aus Prokofiews „Romeo und Julia“ Bezug zu nehmen, wirkt dann vor allem wie ein Ablenkungsmanöver vom Kleidungsdefizit des sprichwörtlichen Kaisers und nicht wie ein Beleg unwiderstehlicher Kreativität.

Brett Dean in der Elbphilharmonie: eine randvolle Wundertüte

Deans Kantaten-Brocken „In This Brief Moment“ dagegen dachte nach der Pause enorm effektprall über Haydns „Schöpfung“ nach, auch aus dem Blickwinkel von Darwins Evolutionstheorien. Schon die Entstehung der ersten Zuckungen des Lebens („Was ist, ist / Doch einst war es nicht“) war von Brett so spannend vertont wie ein Bio-Thriller-Soundtrack. Vom ersten Rühren in der Ursuppe des Universums mal eben in 50 Minuten durch 4,5 Milliarden Jahre zu rasen, ohne zu kollabieren, das muss man erstmal so raffiniert können.

Deans Stück konnte; mit einer begeisternden Leichtigkeit und Trittsicherheit nutzte es, was die übergroße Besetzung an Schilderungsmöglichkeiten und Farbenpracht hergab. Sopranistin und Countertenor, der üppig besetzte Philharmonische Chor Prag und im Finale als letzte smarte Idee die Verteilung von Chormitgliedern in den Rängen, die dort sonderbare flirrende Alien-Geräusche mit Whirlytubes (ein Rohr) produzierten – das alles ergab eine randvolle Wundertüte.

Infos: www.elbphilharmonie.de. Dieses Konzert ist auf www.ndr.de/kultur nachzuhören.