Hamburg. Bei den Lessingtagen werden Shitstorms zum Glamour-Musical, Bombenalarm zur Installation, und der Kultursenator setzt auf die Hoffnung.

Joachim Lux hätte auch zum Pessimisten werden können. Vor 14 Jahren hatte der Intendant des Thalia Theaters das Festival „Lessingtage“ gegründet, in der Hoffnung, dass sich demnächst eine Art Weltverständnis durchsetzen werde. Allein: Der russische Angriff auf die Ukraine, die weltweite Abschottung während der Corona-Pandemie, die Klimakatastrophe haben ihn eines Besseren gelehrt. „Was für Lessing steht, kosmopolitische Aufklärung, ist schwerstens unter die Räder gekommen“, meint Lux zur Festivaleröffnung am Sonntagvormittag, „woher Zuversicht nehmen in dieser Zeit?“

Eine Antwort weiß vielleicht Carsten Brosda. Der Hamburger Kultursenator hält die Eröffnungsrede unter dem Titel „Die Vernunft der Zuversicht“; nachdem in den Vorjahren zum Beispiel der türkische Journalist Can Dündar oder die indische Aktivistin Vandana Shiva die Internationalität der Veranstaltung betonten, spricht jetzt also jemand aus dem direkten Umfeld. Wobei auch Brosdas Gedanken nicht am Elbufer enden: Der 48-Jährige kann die ganz großen Brücken schlagen mit seinen Überlegungen, und er macht gleich zu Beginn klar, dass er sich auch im Thalia nicht bremsen will: „Wenn ich schon eingeladen werde, kein Grußwort zu halten, sondern eine Rede, dann wird das auch eine Rede.“

Lessingtage: Brosda konstruiert seine Vision zur „Vernunft der Zuversicht“

Aber: Wer Brosda kennt, der weiß, dass das nicht langweilig wird. Er steigt ein mit dem Song „Das Leichteste der Welt“ der Hamburger Indiecountryband Kid Kopphausen, scheppernder Garagenrock dröhnt durch den Saal, und von da an ist tatsächlich alles leicht. Der Senator wirft mit Zitaten um sich, vom Philosophen Ernst Bloch, der Publizistin Kübra Gümüsay, dem Liedermacher Funny van Dannen, der Rockband Tocotronic, immer wieder vom Schriftsteller Michael Ende, aus dessen Jugendbuch „Momo“ er zwei Figuren näher in den Blick nimmt: den auf das praktisch Machbare konzentrierten Beppo Straßenkehrer und den phantasiebegabten Hallodri Gigi Fremdenführer.

An denen konstruiert er seine Vision zur „Vernunft der Zuversicht“ entlang: Man muss einen dritten Weg zwischen diesen beiden Positionen finden, und man muss die beiden Haltungen immer wieder argumentativ aufeinandertreffen lassen.

„Shitstorm-Musical“ als Achterbahnfahrt der Perspektiven

Als Ort für dieses Aufeinandertreffen macht Brosda die Kunst aus, also auch das Theater. Und das bietet sich nicht zuletzt bei den Lessingtagen als Raum an, der nicht nur ästhetisch liefert, sondern auch zum gesellschaftspolitischen Diskurs beiträgt. In den Gastspielen des Wochenendes wird dies besonders deutlich: So klug, (selbst-)ironisch und zugleich auf allerhöchstem Niveau unterhaltsam sieht man den Untergang des alten weißen Mannes selten wie in Yael Ronens brillantem Fast-Musical „Slippery Slope“. Und bevor sich jemand aufregt, so eindeutig ist dieser Abend keineswegs, eben das macht seine Faszination (auch) aus.

Die Produktion des Berliner Maxim Gorki Theaters, gleich zweimal zu Gast in Hamburg, ist ein Gesamtkunstwerk aus Pop, Bühne und Botschaft, eine Art „Shitstorm-Musical“ als Achterbahnfahrt der Perspektiven, ein gesungenes MeToo, nur multidimensionaler und mit mehr Glitzer. Polarisierend und komplex, aber auch lustig, böse und ziemlich mitreißend. Eine glamouröse Debattenshow, die ausschließlich verkorkste, beschädigte, manipulative Charaktere im Angebot hat und trotzdem hinreißend ist.

"Bomb Shelter": Eine Nacht in einem Kiewer Bombenkeller

Auf deutlich drastischere Art eindringlich geht es in der Thalia-Zweitspielstätte in der Gaußstraße zu: Die immersive Installation „Bomb Shelter. Art Resistance Night“ des Center of Contemporary Art Dakh/GogolFest verwischt bewusst die Trennschärfe von Kunst und Aktivismus. Getragen wird die Inszenierung (kuratiert von Andrii Palatnyi in der Regie von Vlad Troitskyi), die eine Nacht in einem Kiewer Bombenkeller nachbaut, von der Solidarität mit der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg. Es beginnt wie ein gewöhnliches Late-Night-Programm eine Stunde vor Mitternacht mit einem fulminanten Konzert-Auftritt der ukrainischen Folk-Punk-Band Dakh Daughters im rappelvollen Foyer.

Das Quintett gibt sich in Tutu-Kostümen mit weiß geschminkten Gesichtern kämpferisch, während über die rückwärtige Mauer Bilder ziehen, in der das NS-Hakenkreuz direkt neben dem russischen „Z“ steht. Es folgt eine Leseperformance aus dem Essay-Band „Gleich geht die Geschichte weiter. Wir atmen nur aus“ der ukrainischen Autorin und Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk. Die Ensemble-Mitglieder Oda Thormeyer und Tilo Werner sowie Solomia Kushnir tragen die Worte vor, mit denen Maljartschuk den Alltag im Krieg messerscharf, oft auch spöttisch analysiert.

Irritierende Bühnenshow mit viel schwarzem Leder und Peitsche

Jäh wird der Auftritt unterbrochen von einer Sirene. Luftalarm! Schweigend laufen die Besucherinnen und Besucher bis zu einem improvisierten Matratzenlager im großen Saal. Dort warten schummriges Licht, ein paar Kissen, Decken und Früchtetee. Während man einer Tonspur aus Bombenhagel, zersplitternder Architektur, Kindergeschrei, ukrainischen Gesängen und Tagebucheinträgen lauscht, versuchen alle, ein wenig zu schlafen.

Nach einer Stunde geht es wieder ins Foyer, wo nun Stühle, Blumenkübel, Paletten und Einkaufswagen verwüstet übereinanderliegen. Die Menschen richten Stühle auf, holen sich neue Getränke. Dem Bild der Zerstörung setzt die Band Ragapop ihren wütenden Elektro-Pop entgegen – inklusive geschmacklich etwas irritierender Bühnenshow mit viel schwarzem Leder und Peitsche. Höhepunkt der Nacht ist die intensive, zugleich zurückhaltende Kammeroper „Stus: Passerby“ des Komponisten Volodymyr Rudenko. Zeitgenössischer Operngesang verbindet sich mit introspektiven Klängen zu einer Meditation über die Zerbrechlichkeit des Lebens.

Brosda kann sich ein paar politische Spitzen nicht verkneifen

Bis um vier Uhr morgens ein neuer Luftalarm zurück in den Kunst-Bunker zwingt, der die Schrecken der Realität nur andeutungsweise vermitteln kann. Denn dieser Krieg findet ja statt, jetzt, gerade. Die Installation ist keine Erinnerungsveranstaltung an vergangenes Unrecht. Umso hilfloser fühlt sich die Leitfrage der offiziellen Festivaleröffnung am Sonntagvormittag an, zugleich umso dringlicher: „Woher Zuversicht nehmen in dieser Zeit?“

Sehr verknappt gesagt, könnte dies eine Antwortmöglichkeit sein: Die einen finden Hoffnung und Inspiration in der Religion, andere – und dazu gehört natürlich auch der Kultursenator – in der Kunst, in der Musik, im Theater. Weshalb Brosda übrigens ganz konkret fordert, in Schulen mehr Wert auf ästhetische Bildung zu legen und die aktuelle Fokussierung auf die MINT-Fächer zu überdenken. Und obwohl er nicht als Parteipolitiker eingeladen ist, kann der Sozialdemokrat sich in seiner Rede auch ein paar politische Spitzen nicht verkneifen. Die Angst vor der Zukunft hat nämlich viele Ausprägungen, als Beispiel nennt er die teils hysterische Diskussion darüber, ob in die Sprache „ein paar Sternchen“ eingefügt werden dürften – ein Seitenhieb gegen den Hamburger CDU-Vorsitzenden Christoph Ploß, der den Kampf gegen gendersensible Sprache zu seinem politischen Markenkern gemacht hat.

Lessingtage: Im Publikum sind mehrheitlich weiße, ältere Menschen anwesend

Was in dieser unterhaltsamen, klugen, langen Rede ein bisschen untergeht: Die Frage, wer bei diesem Aufeinandertreffen der Argumente eigentlich dabei sein darf? Im Anschluss nämlich stellen sich Brosda und Lux noch den Fragen von fünf Schülerinnen, Schülern und Studierenden, und die stellen beim Blick vom Podium ins Publikum fest, dass hier mehrheitlich „weiße, ältere Menschen“ anwesend sind.

Dass die Thalia-Besucher nicht allein die Gesellschaft abbilden, das ist auch dem Kultursenator klar. Die Hoffnung zu verlieren oder dem Zynismus nachzugeben, das ist für ihn allerdings auch keine Lösung: „Jeder Tag ist ein Geschenk“, zitiert er noch einmal Kid Kopphausen, „er ist nur scheiße verpackt“.

Die Thalia-Lessingtage finden noch bis zum 12. Februar im Thalia Theater statt. Programm und Termine: www.thalia-theater.de