Hamburg. Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter über die Problemfälle Anna Netrebko, Teodor Currentzis und Plácido Domingo.
Zum Saisonbeginn könnte man sich als Generalintendant der Hamburger Elbphilharmonie und der Laeiszhalle durchaus Schöneres, Einfacheres denken. Doch Christoph Lieben-Seutter hat gleich drei weltbekannte, problematische Problemfälle in seinem Konzertkalender: am 7. September den Auftritt der Sopranistin Anna Netrebko, am 3. Oktober kommt der Ex-Tenor Plácido Domingo und am 5. Oktober der Dirigent Teodor Currentzis mit seiner Orchester-Neugründung.
Politisch und moralisch zu hinterfragen sind alle drei Termine, jeder auf seine Art. Es gibt also reichlich klärenden – oder zumindest erklärenden – Gesprächsbedarf im Vorfeld.
Hamburger Abendblatt: Anna Netrebko, die wegen ihrer Einstellung zu Putin und dessen Angriffskrieg auf die Ukraine schwer umstritten ist, gibt inzwischen wieder Konzerte und wurde unter anderem in Paris gefeiert. Ist sie damit für Sie rehabilitiert?
Christoph Lieben-Seutter: Das weiß ich nicht. Ob sie rehabilitiert ist oder nicht – ich bin gegen die generellen Boykottforderungen, ich halte es für schwierig, wenn Künstler gezwungen werden, sich moralisch zu outen, bevor sie auftreten. Ob man ihr die Distanzierung vom russischen Regime abnimmt? Schwer zu sagen. Auf dem Papier hat sie sich distanziert. Es gibt im Moment keine rechtliche Grundlage, etwas gegen das Konzert zu machen. Diese Superstar-Abende mit Arien und extrem hohen Ticketpreisen sind allerdings nicht meine Lieblingsveranstaltungen.
Sie sagten „man“. Nehmen Sie ihr das ab?
Lieben-Seutter: Sie ist die bekannteste Sängerin der Welt und wurde logischerweise auch in Russland dafür gefeiert und geehrt. Das macht sie noch nicht automatisch zu einer Verfechterin des Putin-Regimes, aber ihre ersten Äußerungen nach Kriegsbeginn waren zu missverständlich. Nachdem sie das erkannt hatte, hat sie sich wahrscheinlich überlegt, wo sie in Zukunft die besseren Auftrittsmöglichkeiten hat, und sich gegen ihre Heimat entschieden. Das ist ihr sicherlich nicht leichtgefallen.
Eigentlich war das eine Ja-Nein-Vielleicht-Frage.
Lieben-Seutter: Vielleicht. Die Situation ist komplex.
Vor Netrebkos Konzerten in Regensburg und auch kürzlich in Köln gab es Proteste. Ihr Stuttgarter Konzert am 3.9. ist abgesagt worden. Die Politik dort befürchtete, dass der Auftritt als „Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit bis hin zu Ausschreitungen und Straftaten“ führen könnte. Diese Angst haben Sie hier nicht?
Lieben-Seutter: Gut möglich, dass es vor dem Haus Proteste gibt. Aber ich habe noch keine Hinweise auf Ausschreitungen oder Gewalttaten.
Gibt es extra Sicherheitsvorkehrungen?
Lieben-Seutter: Nicht, dass ich wüsste.
Wäre das Ihre Aufgabe oder die des Veranstalters DEAG, der die Elbphilharmonie für das Konzert gemietet hat?
Lieben-Seutter: Wir würden reagieren, wenn wir von der Polizei über eine Gefahrenlage informiert würden.
Peter Gelb, Chef der New Yorker Met, hat im Juni nach der Trennung von Netrebko gesagt: „Was ich lange toleriert habe, ist jetzt nicht mehr hinnehmbar.“ Für Sie doch, nach wie vor?
Lieben-Seutter: In diesem Fall gibt es eine klare Ebene: Das Konzert ist eine Saalvermietung, die lange vor Kriegsausbruch abgeschlossen wurde. Wir müssten einen gültigen Vertrag kündigen. Dafür gibt es keine Basis, das würde automatisch einen Rechtsstreit über Hunderttausende Euros nach sich ziehen. Einzig mögliches Argument: erhebliche Reputationsschäden. Die stehen meiner Meinung nach aber nicht dermaßen im Raum, dass sie in Relation zu solchen Summen stehen würden.
Es ist also schlicht zu teuer, um es abzusagen?
Lieben-Seutter: Nicht nur das. Es gibt einen unterschriebenen Vertrag und wir sind ein öffentliches Unternehmen. Mein Herz hängt nicht an diesem Konzert, aber: Pacta sunt servanda, und wir können nicht nach Belieben Verträge kündigen und dann aus der Steuerkasse entschädigen.
Kultursenator Carsten Brosda hat im März bei uns im Interview gesagt, es wäre nicht gut, wenn das Konzert stattfindet.
Lieben-Seutter: Ich würde ihm gern den Gefallen tun, aber wir sind rechtlich gebunden.
Netrebko hat ihren ersten Termin im März selbst verschoben. Das ist nicht Ihr Konzert, aber angenommen, Sie wären der Veranstalter: Zu welchem Zeitpunkt hätten Sie abgesagt?
Lieben-Seutter: Wenn überhaupt, hätte ich eine konzertante Oper oder einen Liederabend mit ihr veranstaltet, also etwas, was ich inhaltlich sehr gern gehabt hätte. Ob ich das, wenn ich Veranstalter wäre, jetzt absagen würde, weiß ich nicht.
Haben Sie schon direkt mit ihr darüber gesprochen?
Lieben-Seutter: Nein, nur mit Ihrem Management.
Haben Sie das noch vor?
Lieben-Seutter: Nein.
Der Dirigent Franz Welser-Möst hatte im März erklärt: „Es geht nicht einfach um die Sängerin Netrebko, sondern um die Marke. Und die ist ziemlich kaputt.“ Ist die jetzt wiederhergestellt?
Lieben-Seutter: Sie ist auf jeden Fall beschädigt.
Werden Sie in diesem Konzert sein?
Lieben-Seutter: Eher nicht.
Ausverkauft ist das Konzert mit Preisen von 280 bis 440 Euro nicht. Wissen Sie, wie viele Karten für den ersten Abend zurückgegeben und wie viele davon neu gekauft wurden?
Lieben-Seutter: Dazu kann ich nichts sagen. Seit der Verschiebung läuft alles über das Ticketing der DEAG.
Beim Nachdenken über dieses Konzert habe ich Bauchschmerzen. Wie geht es Ihnen?
Lieben-Seutter: Freuen tue ich mich nicht darauf, aber das ist das professionelle Leben. Sie ist nach wie vor eine super Sängerin, aber diese Wunschkonzert-Arien-Abende zu Höchstpreisen sind nicht Kernprogramm der Elbphilharmonie. Die lassen wir gelegentlich zu, weil es allseits die Erwartung gibt, dass solche Berühmtheiten in einem der berühmtesten Konzerthäuser auftreten.
Doch das ist kein Konzert, sondern ein Politikum.
Lieben-Seutter: Wie gesagt: Meine einzige Handlungsmöglichkeit wäre, den Mietvertrag zu kündigen. Dafür sehe ich keine rechtliche Grundlage.
Was, wenn sich die Kulturbehörde bei Ihnen meldet und mitteilt: Das passiert nicht, wir übernehmen die Kosten, schickt uns die Rechnung. Das ginge?
Lieben-Seutter: Die Kulturbehörde ist wie wir an Recht und Gesetz gebunden. Ich habe Schaden von diesem Konzerthaus abzuwenden. Hunderttausende Euro vor Gericht zu verlieren, ist meines Erachtens der größere Schaden als der vermeintliche Imageschaden durch Frau Netrebko. Es wurde von ihr gefordert, dass sie sich vom russischen Regime distanziert, und das hat sie mit Verzögerung und über einen Anwalt getan. Vielleicht nicht sehr glaubwürdig, aber sie hat es getan. Die Alternative wäre, sie bis in alle Ewigkeit zu verdammen? Bis Frieden einkehrt und Putin nicht mehr da ist? Das ist doch auch keine Lösung. Meine persönliche Einstellung ist, Dinge eher zu ermöglichen als sie zu verhindern.
Damit wären wir bei Currentzis, ebenfalls, aber anders wegen seiner Haltung zu Putin umstritten, und seinem Orchester-Projekt „Utopia“. Wie kam es zu diesem Termin?
Lieben-Seutter: Diese Idee eines Projektorchesters mit den besten Musikern aus verschiedenen europäischen Orchestern gab es schon länger. Angesichts der Ereignisse wurde die erste Tournee jetzt sehr kurzfristig organisiert, da gab es in der Elbphilharmonie keinen freien Termin mehr. Nachdem ein andernorts geplantes Konzert flach viel, fragte Currentzis‘ Büro an, ob nicht wenigstens die Laeiszhalle frei wäre, von der er ein großer Fan ist. Sie war frei und so kam es zustande.
Sind Sie, als HamburgMusik oder persönlich, an Planung, Finanzierung oder Organisation beteiligt?
Lieben-Seutter: Nicht an der Tournee, nur am Hamburger Konzert.
In einem skurrilen Interview im August hat Currentzis lediglich erklärt: „Demokratie, dieses Wort bedeutet mir viel.“ Genügt das Ihrer Meinung nach?
Lieben-Seutter: Wahrscheinlich nicht. Natürlich wünschen wir uns alle klarere Aussagen von ihm. Die kommen nicht, aber er gibt aufrüttelnde Konzerte, die inhaltlich sehr aussagekräftig sind und die Welt bereichern. Natürlich fragt man sich: Was spricht dafür, ihn weiter zu engagieren, was spricht dagegen? Unterm Strich spricht für mich sehr viel mehr dafür.
Was spräche für Sie dagegen?
Lieben-Seutter: Dass er sich nicht stark genug vom russischen Regime distanziert. Aber ich habe niemals von ihm ein positives Wort über Putin gehört, er hat den Krieg eindeutig verurteilt. Er will und kann seine Wahlheimat nicht verlassen. Vor die Wahl gestellt, würde er sich vielleicht eher für Russland entscheiden als für den Westen, auch aus Verantwortung für seine Musikerinnen und Musiker. Diese Ambivalenz sollte man aushalten: Er ist einer der bedeutendsten Künstler unserer Zeit, die Situation ist kontrovers. Veranstalten wir es, bekommen wir nicht nur ein tolles Konzert, sondern auch Diskussionen und vielleicht auch schlechte Schlagzeilen. Diese Aufregung hilft der Ukraine vielleicht mehr als die Absage aller diskussionswürdigen Veranstaltungen.
Markus Hinterhäuser, Intendant der Salzburger Festspiele, hat bei unserem Gespräch erwähnt, dass Currentzis sich – vergeblich – beim Theater an der Wien beworben habe. Gab es Überlegungen, in Hamburg anzudocken?
Lieben-Seutter: Nein. Wir haben nicht so einfach die Strukturen dafür, das müsste man sich in Ruhe überlegen. Es gab auch Ideen, MusicAeterna in Paris anzusiedeln. Am Ende waren die Finanzierungsmöglichkeiten in Sankt Petersburg sehr viel besser als in Westeuropa.
Momentan sind noch reichlich Karten für das Currentzis-Konzert zu haben. Normalerweise verkauft er rasend schnell. Wie erklären Sie sich das?
Lieben-Seutter: Der Vorverkauf ist gerade generell sehr kurzfristig und die Laeiszhalle ist nicht die Elbphilharmonie. Das Konzert wurde noch nicht groß beworben. Ich gehe davon aus, dass die Nachfrage steigen wird.
Ist das für Sie ein ganz normales Konzert oder auch eine politisch heikle Angelegenheit?
Lieben-Seutter: Natürlich ist es politisch heikel, aber ein Konzert, von dem ich sehr viel überzeugter bin als von dem Netrebko-Abend. Currentzis ist eine wesentliche Figur in der klassischen Musik, immer schon kontrovers. Seit der Eröffnung hat er für zahlreiche Höhepunkte in der Elbphilharmonie gesorgt, da ist man nicht nur sehr gespannt, was er als nächstes macht, man hat ihm gegenüber auch eine gewisse Loyalität. Jemanden, dem man so viel zu verdanken hat, setzt man nicht von einem Tag auf den anderen vor die Tür, wenn er nicht gerade gegen das Gesetz verstoßen hat. Man will die Welt gern in Gut und Böse einteilen, das macht das Leben leichter. Aber so einfach ist es eben nicht. Wir würden sicher keinen Vertrag direkt mit einer russischen Staatsorganisation oder einem russischen Sponsor abschließen, wir würden nicht mit dem Bolschoi oder dem Mariinski-Theater kooperieren. Wenn MusicAeterna wiederkommt, handelt es sich zwar um ein unabhängiges Orchester, aber es steckt auch russisches Geld drin, weil es gar nicht anders geht. Wie soll es sich auch finanzieren? Es gibt in Russland kein sauberes Geld.
Bleibt noch Plácido Domingo, der seit langem mit zahlreichen Beschuldigungen wegen sexueller Belästigung konfrontiert wird. Aktuell gab es einen leicht verworrenen Vorfall in Argentinien, bei dem es um seine Kontakte zu einer offenbar auch kriminellen Vereinigung ging. In seinen Stamm-Opernhäusern in den USA wurde er längst zur persona non grata erklärt. Hier nicht. Jetzt kommt er wieder in die Elbphilharmonie – es ist ein weiteres Konzert, bei dem Sie nicht der Veranstalter, sondern Vermieter sind. Wie geht es Ihnen damit?
Lieben-Seutter: Ich habe ähnliche Bauchschmerzen wie bei Netrebko.
Also: Der Saal ist vermietet, da kann man leider nichts machen?
Lieben-Seutter: Es sind Gerüchte und Geschichten. Ich weiß nicht, was dran ist.
Falls die Managements von Netrebko und Domingo demnächst weitere Termine möchten, ist davon auszugehen, dass Sie denen antworten: Gerade passt es nicht?
Lieben-Seutter: Das kann sein. Doch noch einmal: So einfach ist es nicht. Es sind beides nicht meine Wunschkonzerte, aber wie schon gesagt, solche Abende müssen auch manchmal sein. Das Publikum kann entscheiden, ob es kommen möchte oder nicht. Und man muss auch sagen: Die Elbphilharmonie hat dadurch zusätzliche Einnahmen.
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Ein super Argument, um alle, die diese Konzerte ablehnen, ganz flott nach ganz oben auf die Palme zu bringen.
Lieben-Seutter: Es ist ja nicht so, dass wir uns damit die Taschen füllen. Aber jedes Konzert hilft, das aktuelle Defizit der Betriebsgesellschaft zu reduzieren.