Salzburg. Festspielleiter Markus Hinterhäuser spricht im Abendblatt über Programm-Zentralgestirn Teodor Currentzis und dessen Nähe zu Putin.

Nach zwei anstrengenden Corona-Sommern haben die Salzburger Festspiele nun ein weiteres Problem: Wie umgehen mit problematischen Sponsoren und unsauberem Geld, und erst recht: wie umgehen mit dem Programm-Zentralgestirn Teodor Currentzis? Die Haltung des griechisch-russische Dirigenten zu Putin und seinem Angriff auf die Ukraine wird seit Kriegsbeginn kontrovers diskutiert.

Dirigent Teodor Currentzis hat sich nicht zu Putin geäußert.
Dirigent Teodor Currentzis hat sich nicht zu Putin geäußert. © dpa | Barbara Gindl

Currentzis‘ Ensembles in St. Petersburg werden auch von Putin-nahen Unternehmen mitfinanziert, er tritt in Russland für seine Sponsoren und auf staatlichen Veranstaltungen auf. Er sagt nichts Eindeutiges für Putin – aber auch nichts Eindeutiges gegen ihn. Currentzis ist alles andere als ein massiv vergoldeter Staats-Künstler und Putin-Fan wie der klassikbranchenweit in Ungnade gefallene Dirigent Valery Gergiev; er ist auch keine karrieregeknickte Diva wie Anna Netrebko, die sich ihre Welt nach dem 24. Februar gern macht, wie sie ihr gefällt.

Salzburger Festspiele: Hinterhäuser lädt Currentzis zu Premiere

Sein Beziehungsstatus als Klassik-Star im Westen: Es ist gerade wirklich sehr kompliziert. Markus Hinterhäuser, seit 2016 Intendant der Salzburger Festspiele, kämpft mit den vielen Widersprüchen der Gegenwart und den bisherigen moralischen Versäumnissen der Hochkultur, wenn es um Haltung zu Wahrheiten geht. Dass ihn das nicht nur professionell mitnimmt, bewies sein hochtouriger Zigaretten-Konsum während des Gesprächs in seinem Büro.

Hamburger Abendblatt: Warum dirigierte Currentzis hier die Eröffnungspremiere? Er hätte ja auch nicht dirigieren können?

Markus Hinterhäuser: Ich habe ihn immer aus tiefster künstlerischer Überzeugung eingeladen. Jetzt hat sich die Situation durch den Krieg in der Wahrnehmung verändert, und durch das Fadenkreuz, das auf ihn gerichtet wird. Wenn jemand in dieser Situation die Verpflichtung hat, einen zivilisatorischen Ton einzubringen, kann es nur die Kultur sein.

Die Festspiele sind in einem Weltkrieg ersonnen und kurz danach gegründet worden. Nicht von Politikern oder Menschen aus der Wirtschaft, die können das nicht, sondern von Künstlern. Wir müssen wirklich differenziert agieren und ich bin nicht einverstanden mit dieser Verurteilung, die aus einem selbstgezimmerten moralischen Hochsitz heraus passiert.

Hinterhäuser verteidigt Currentzis

Sie haben nie ernsthaft in Erwägung gezogen, ihn auszuladen?

Hinterhäuser: Darum geht es nicht. Ich mache mir das alles hier wirklich nicht leicht. Teodor kenne ich viele Jahre und habe nie irgendetwas von ihm gehört, was auch nur den Anschein erwecken könnte, dass er eine Sympathie für das System Putin hätte. Würde er jetzt ein Statement dagegen abgeben, würden alle sagen: zu spät.

Er hat seit vielen Jahren ein Orchester, das von der VTB Bank gesponsert wird, die auf der EU-Sanktionsliste steht. Das ist schon lange so. Currentzis‘ Ensembles sind keine staatliche Organisation, sie alle und auch Currentzis leben in einem diktatorischen, sehr repressiven System. Nur für das Wort „Krieg“ kann man für bis zu 15 Jahre ins Gefängnis kommen. Wir müssen eine Art Gerechtigkeit walten lassen. Er schützt auch seine Musiker und wir haben die Verpflichtung, die Zivilgesellschaft zu unterstützen.

Man könnte aber auch auf dem Standpunkt stehen: Okay, diese Förderung gab es. Ab Kriegsbeginn geht es kategorisch nicht mehr, dieses Geld weiter anzunehmen.

Hinterhäuser: Gegenfrage: Glaubt jemand allen Ernstes, dass man 140 Menschen einfach so allein lassen kann? Die haben alle Familien, die haben auch ein Leben. Currentzis hat versucht, aus Russland wegzugehen, das weiß ich. Er hat sich für das Theater an der Wien beworben, mit dem Gedanken, das Orchester dorthin mitzubringen. Nochmal: Ist das eine heldenhafte Tat, wenn man Musiker – das sind keine Soldaten – einfach so sich selbst überlässt? Currentzis ist weltbekannt, er könnte hingehen, wohin er möchte.

Hinterhäuser gegen Verurteilung russischer Staatsbürger

Das können seine Musiker nicht. Und sie können nichts dafür. Eine Freundin von mir, die berühmte Theatermacherin Marina Davydova, hat in Moskau eine Petition gegen Putin unterschrieben und musste das Land keine 24 Stunden später verlassen, an ihr Haus war ein großes Z gesprüht. Sie hat gesagt: Wir sind alle Geiseln Putins.

Jetzt könnte ich entgegnen: Ja. Und die Ukraine ist das Opfer.

Hinterhäuser: Da würde ich überhaupt nicht widersprechen. Putin hat diesen Krieg begonnen. Es gibt 141 Millionen russische Staatsbürger. Wollen wir die alle unter einen Scanner legen und sagen: Wenn du nicht unserer Meinung bist, hast du hier nichts verloren?

Das wäre eine zutiefst inhumane Haltung. Ohne das direkt miteinander zu vergleichen: Schostakowitsch – den alle zu Recht aufführen – hat in der Stalin-Zeit gelebt und komponiert, und sein ganzes Leben war ein ständiges Bewegen zwischen vermeintlichem Akzeptieren dieses grausamen Systems und einer verzweifelten Situation der Ablehnung und Verachtung. Wir hier maßen uns eine Be- und Verurteilung von Menschen an, die in einem solchen System nicht nur leben, sondern auch leiden.

Ist es moralisch richtig, zu sagen: Ja, ich weiß das alles, wir machen es trotzdem?

Hinterhäuser: So kann man die Frage nicht stellen. Wenn Sie auf das Sponsoring auf die VTB Bank abzielen: Currentzis hat vor vielen Jahren das Orchester geschaffen, das ist seine Stradivari. Dafür braucht man jemanden, der das strukturell unterstützt. Bis zum 24. Februar war das für niemanden ein Problem. Wenn ich als Intendant der Salzburger Festspiele nun sage: Currentzis wird vielleicht eine Änderung vornehmen – so schnell, wie wir das erwarten, geht es nicht. Schon gar nicht in Kriegszeiten.

„Warum kann man uns nicht ein Mindestmaß an Aufrichtigkeit zugestehen?“

Wir, als Festspiele, haben mit dieser VTB Bank aber so was von gar nichts zu tun. Und wenn wir glauben, dass die Kultur ein hehres, reines, exterritoriales Gebilde ist, dann täuschen wir uns. Die Kulturgeschichte ist immer eine Geschichte der Amoralität gewesen. Das verteidige ich nicht. Doch der jetzige Anspruch ist dermaßen überspannt und konstruiert.

Müssten Sie dann als Instanz Salzburger Festspiele nicht proaktiver damit umgehen und diese Themen klar diskutieren?

Hinterhäuser: Das tun wir doch, seit Wochen und Monaten. Demnächst wird bekannt gegeben, dass wir ab vom 9. bis 19. August ein groß angelegtes, hochinteressant besetztes Symposium genau über diese Fragen abhalten werden. Wir können nur nicht alles auf einmal machen.

Und dann wird garantiert jemand kommen und sagen: Feigenblatt.

Hinterhäuser: Und wenn wir es nicht machen, wird garantiert jemand sagen: Warum nicht? Warum soll das ein Feigenblatt sein? Warum kann man uns nicht ein Mindestmaß an Aufrichtigkeit zugestehen? Wie Currentzis und das Gustav Mahler Jugendorchester die 13. von Schostakowitsch aufgeführt haben – das war ein ganz großes Statement gegen Antisemitismus und das Vergessen. Er wollte in Wien ein Benefizkonzert für ukrainische Flüchtlinge geben. Das ist torpediert worden.

Hinterhäuser über Cancel Culture

Zieht IKEA sich wegen Putins Krieg aus Russland zurück, ist denen egal, ob irgendein Ivan Popov einen IKEA-Job verliert. Bei der Kultur ist so etwas nicht möglich?

Hinterhäuser: Das ist überhaupt nicht zu vergleichen. Das eine ist ein Konzern, der weltweit agiert und die haben, freundlich gesagt: fragwürdige Mechanismen. Die Kultur hat auch Solidarität und Mitgefühl zu behaupten und Unterstützung der Zivilgesellschaft. Wer sonst soll das denn machen? Die Wirtschaft interessiert einzig die Gewinnmaximierung.

Wenn IKEA sich zurückzieht, werden sie das mit anderen Märkten ausgleichen, das ist für die überhaupt kein Problem. Ein Musiker, ein Chorist bei MusicAeterna – das kann man wirklich nicht vergleichen. Kunst und Kultur sind die einzige Möglichkeit, die wirklich entscheidenden Fragen zu stellen und sich damit zu befassen. Cancel Culture ist der Ausdruck einer vollkommenen Kulturlosigkeit.

Nächstes Thema: die Verbindung zu problematischen Sponsoren wie der Bergbaufirma Solway – von der die Festspiele sich inzwischen getrennt haben.

Hinterhäuser: Erstens ist Solway kein russischer Großsponsor. So etwas haben wir nicht, ich kann es nicht oft genug wiederholen. Die haben in Russland ein Minimalgeschäft und eine Rechercheplattform hat glücklicherweise in Guatemala sehr missliche Zustände aufgedeckt.

Hinterhäuser hält sich an EU-Sanktionsliste

Wir haben kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe sofort Aufklärung von Solway verlangt und ihnen mitgeteilt, dass wir das Sponsoring nicht aufrechterhalten können, sollte das wahr sein. Wir bekamen die Ergebnisse der Untersuchung und haben die Zusammenarbeit beendet. Unser Gesamtetat liegt bei 63 Millionen Euro, von Solway kamen 150.000 Euro.

Dann wäre da die russische VAC-Stiftung, die hier Produktionen unterstützt…

Hinterhäuser: Die steht nicht auf der Sanktionsliste der EU. Sobald sie dort steht, wird sich die Beurteilung für uns ändern. Die VAC-Stiftung hat Arbeiten von Romeo Castellucci unterstützt, Teodor Currentzis spielte da eine untergeordnete Rolle. Die „Salome“ beispielsweise hat ja nicht Currentzis dirigiert, sondern Franz Welser-Möst.

Vor mir hängt ein Festspiel-Plakat mit dem Logo Ihres Sponsor Audi, die bauen Autos, die man auch anzweifeln kann.

Hinterhäuser: Soll man allen verbieten, dieses Auto zu fahren? Und die nächste Marke wird auch verboten? Wenn wir über historische Konstellationen reden, dann dürften wir die Autobahn nach München wohl auch nicht mehr benutzen, die wurde von NS-Zwangsarbeitern gebaut.

Markus Hinterhäuser will realistisch bleiben

Aber die Kultur gilt als Verfechter für das Schöne, Gute, Wahre, Große…

Hinterhäuser: Wer sagt das? Die Kultur besteht aus Menschen, und Menschen sind nicht per se hehr und gut. Ich rechtfertige toxisches Sponsoring nicht, aber wir müssen realistisch sein. Sonst geht das in eine Dimension, die niemand mehr bewältigen kann.

In einem Interview, das Anfang August komplett veröffentlicht wird, hat Currentzis zu Protokoll geben: Demokratie, dieses Wort bedeute ihm viel. Das ist schön und richtig, aber genügt das für ihn?

Hinterhäuser: Das weiß ich nicht, ich bin weder er noch sein Anwalt. Aber ich plädiere für Differenzierung und nicht für eine Pauschalverurteilung durch Menschen, die so viel weniger wissen. Was soll er tun? Soll er sich vier Star-Anwälte nehmen und sehr fein durchdachte Erklärungen abgeben? Jeder Journalist würde sofort sagen: zu spät, er hätte Monate Zeit gehabt…

Intendant der Salzburger Festspiele zur VTB-Bank

… bei Anna Netrebko hat diese Methode mit ihrem „Zeit“-Interview nicht funktioniert…

Hinterhäuser: Und? War das eine besonders intelligente Geschichte? Wirklich nicht. Es ist sehr viel intelligenter und ein viel stärkeres Signal, mit seinem Orchester ein Benefizkonzert für ukrainische Flüchtlinge geben zu wollen. Nochmal zur VTB-Bank: Eine Bank kann so viel Dümmeres tun, als ein Orchester strukturell zu unterstützen, in dem Musiker aus Russland, der Ukraine, Aserbaidschan, der Türkei und europäischen Ländern mitspielen. Das ist ein vollkommen antinationalistisches Projekt, nicht chauvinistisch im Putinschen Sinne, das genaue Gegenmodell dazu.

Als VTB-Bankchef könnte ich entgegnen: Super, schöner können wir uns für den Westen gar nicht hübsch schminken.

Hinterhäuser: Das ist unlauter, was Sie sagen. Wir leben nicht in Russland, wir haben das Privileg, nicht in einem diktatorischen System zu leben, aber wir urteilen und urteilen… Dieses Projekt wird seit Jahren unterstützt und wir tun so, als wären hier seit Jahren Teufel am Werk. Noch mal: Eine Bank kann sehr viel Blöderes tun als die Unterstützung eines Gegenmodells zu Nationalismus und Chauvinismus. Wir laufen Gefahr, unsere eigenen Werte- und Freiheitsvorstellungen nicht nur zu verraten, sondern auch zu verlieren. Da müssen wir aufpassen.

Das heißt?

Hinterhäuser: Ein weiterer Gedanke dazu: Würde Currentzis‘ Orchester nicht durch die VTB, sondern durch die Gazprom Bank unterstützt – wäre das ein Problem? Die sind nämlich nicht auf der Sanktionsliste. Warum? Weil die Gasgeschäfte darüber abgewickelt werden. Wir müssen realistisch sein und uns an unser ach so moralisches Näschen fassen.

Können Sie überhaupt noch unbeschadet aus diesem Dilemma herausfinden oder ist das Geschirr bereits zerschlagen?

Hinterhäuser: Das wird auch ständig herbeigeredet. Wir haben hier, um nur ein Beispiel zu nennen, in „Il Trittico“ Russen und Ukrainer, kein Problem. Es wird so viel instrumentalisiert, ich erinnere auch – das muss ich jetzt so sagen – an gewisse Äußerungen des ukrainischen Botschafters in Deutschland. So funktioniert das nicht.

Wir müssen auch Zwischentöne zulassen. Krieg ist Primitivität und Barbarei – der müssen wir etwas entgegenstellen und das kann nur Differenzierung sein.