Hamburg. Lukas Avendaño zeigt auf Kampnagel seine Choreografie „Lemniskata“ – ein bewegender Abend, der ein positives Signal setzt.

Da ist dieses untergründige Brodeln. Noch bevor das Stück beginnt. Dann Stille. Und Dunkelheit. Ein Moment des Neubeginns. In enormer Langsamkeit und Konzentration rollen vor dem Vorhang von der rechten Bühnenseite 13 Menschen herein. Alle unbekleidet. Und alle mit dem Blick auf das Publikum geheftet. Eng an eng. Flach auf dem Boden liegend. Erst um sich selbst rotierend, schließlich übereinander. So entsteht ein vielköpfiges Wesen von symbiotischer Spannung. Eine Schlange, die sich selbst gebiert. Eine stete Wiederkehr.

Ein ungemein starkes Auftaktbild hat der Regisseur, Choreograf und Anthropologe Lukas Avendaño für seine Inszenierung „Lemniskata“ geschaffen. Das mexikanische Tanztheater feierte am Donnerstag auf Kampnagel umjubelte Europapremiere. Und Avendaño setzt darin die weibliche schöpferische Kraft gegen die patriarchale Gewalt in der Kolonialgeschichte, aber auch in der Gegenwart seiner Heimat.

Kampnagel Hamburg: Es geht um Präsenz

Sein zentrales Ausdrucksmittel: der Körper an sich, der bei ihm neben einer akzentuierten Ästhetik vor allem ein sozio-politisches Symbol ist. Denn Avendaño selbst ist eine Muxe, eine Person dritten Geschlechts. In seinem Stück nehmen sich jene ihren Raum, die marginalisiert wurden und werden.

Die puren Bewegungen von Muskeln, Haut und Knochen, die die Performer anfangs wie eine akkurate Akrobatik in Zeitlupe vollführen, gerät zum emanzipatorischen Akt. Es geht um Präsenz. Um Repräsentation. Und um Kommunikation ohne Worte. Denn wie die steten Blicke der Akteure auf das Publikum zu verstehen sind, liegt im Auge der Betrachtenden: Schauen sie offen, beobachtend, ernst, ängstlich, provozierend oder anklagend? Ist es der skeptische Blick auf die Mehrheitsgesellschaft? Oder die neugierige Betrachtung eines Gegenübers?

Kampnagel Hamburg: Seile und Lichtkreise in Stahlrahmen gespannt

Der Vorhang gibt schließlich den Blick frei auf die Weite der Bühne. Und damit auf großformatige Stahlrahmen, in die Seile und Lichtkreise gespannt sind. Die Tanzenden erschließen sich den Raum erst horizontal, dann vertikal. Mit immer neuen menschlichen Formationen, die sich kollektiv bilden und dann auch wieder auflösen. Das Tempo beschleunigt sich beim flinken Erklimmen der Netze. Manche scheinen sich in dem Gefüge zu verfangen, als einer der Stahlrahmen bis kurz über den Boden herabgelassen wird.

Andere befreien sich aus diesem Kontext und schweben an Seilen gen Himmel. Bis das Geschehen in einen expressiv-archaischen Tanz mündet – mit Masken, halb Tier, halb Fratze, einem Zeichen der indigenen Chimalhuacanos gegen die spanischen Eroberer. Wie eine Urmutter erscheint am Ende eine beleibte Performerin, auf die letztlich alles zustrebt. Ein lebensbejahendes Schlussbild, das gerade in diesen konfliktreichen Zeiten ein positives Signal setzt.