Hamburg. „Lemniskata“ zeigt Männerkörper in „archetypischem Zustand“ – also: nackt. Künstler Lukas Avendaño erklärt den Begriff „Muxe“.

Lukas Avendaño war bereits vor einigen Jahren mit eindrucksvollen Soli zu Gast in Hamburg. Vom 8. bis 10. Dezember ist Avendaño zu Gast aus Mexiko und präsentiert die erste große Tanzarbeit auf Kampnagel. Das Spektakel „Lemniskata“ ist eine Europapremiere, bevor der Abend im kommenden Jahr weltweit auf Tour geht.

Sie haben Anthropologie studiert. Wie haben Sie Ihre Faszination für den Tanz entwickelt?

Lukas Avendaño: Der Umgang mit Ressourcen und Objekten, aber vor allem der Umgang der Menschen miteinander – all das inspiriert auch die Kunst. Die künstlerische Auseinandersetzung – wenn man es auf den Punkt bringen will – ist der Umgang mit Archetypen, also stabilen Formen und Bedeutungen, die sich dennoch ständig ändern, um von Generation zu Generation die Fragen nach Identität, Unendlichkeit etc. neu auszuloten. Der Tanz als körperlich-sinnliches Medium ist besonders gut geeignet, diese Veränderungen durch Bewegungen des Körpers auszudrücken.

Ihre Arbeit wird geprägt von Ihrer Identität als „Muxe“, einem dritten sozialen Geschlecht. Was bedeutet das und wie beeinflusst das Ihre Theaterarbeit?

Lukas Avendaño: Als „Muxe“ werden traditionell Männer bezeichnet, die weibliche Ambitionen haben. Als ich klein war, wurde ich gefragt, warum ich Kleider und lange Haare tragen würde. Schon damals habe ich geantwortet: Weil es mir gefällt. Für den Durchschnittmexikaner ist ein weiblicher Mann nur schwer zu akzeptieren, noch schwerer für ihn ist jedoch der Anblick eines nackten Mannes. Meine Kunst ist ein Akt des Ungehorsams gegen jede unmenschliche Ordnung, ein Widerstand gegen Ängste vor dem eigenen Körper und die ihn umgebende Umwelt.

Worum geht es in „Lemniskata“? Erzählt das Stück eine Geschichte?

Lukas Avendaño: „Lemniskata“ ist für mich eine choreografische Konstruktion, um den Körper aus dem Ort zurückzuholen, der historisch verleugnet wird. War der Mann immer nur zorniger Kämpfer? Den Mann als anderen Mann wiederzuentdecken, kommt einer Häutung gleich, die wir in „Lemniskata“ durch den Körper in seinem archetypischen, unbekleideten Zustand zeigen. In diesem evolutionären Prozess werden Grenzen überschritten. Die Tänzer bewegen sich zum Teil kopfüber und knapp an den Rändern der Seilkanten des Bühnenbildes.

Auch Masken scheinen in dem Stück eine große Rolle zu spielen: Was bedeuten die Masken und wie setzen Sie sie ein?

Lukas Avendaño: Die Masken, die die Tänzer tragen, erinnern an den Widerstand indigener Gruppen gegen die spanischen Eroberer. Die Tänzer auf der Bühne bilden auch eine Art Schicksalsgemeinschaft, indem sie ursprünglich kriegerische Tänze aufführen, die heute bestehende Normen erschüttern und aufrütteln. Es geht ums Überleben und die Distinktion unseres Daseins.

In vielen Schlagzeilen über Mexiko ist von Gewalt, Tötungen und dem Verschwinden von Menschen zu lesen. Auch Ihr Bruder ist 2018 verschwunden und wurde 30 Monate später tot aufgefunden, niemand wurde verantwortlich gemacht. Wie beeinflusst das Ihre künstlerische Arbeit?

Lukas Avendaño: Menschen verschwinden, angeblich spurlos. Auch die alten Kulturen, die indigenen Sprachen verschwinden. Kritik und Kunst – alles verschwindet. Dahinter steht eine nationalistische Politik, die die Geschichte Mexikos homogenisieren will. Ich bin kein Aktivist, ich bin ein Befürworter und betrachte meine Arbeit in ethischer Mitverantwortung. Auf der Bühne trage ich die Verantwortung für das, was das Publikum erlebt. Ich bin verantwortlich für die ästhetische Erfahrung. Zur Kunst wird diese Erfahrung immer erst, wenn sie diese Verantwortung mittransportiert.

„Lemniskata“ 8. bis 10.12., jew. 19:30 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20-24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de