Hamburg. Das Klavier-Recital von Igor Levit, dessen Bandbreite von spätem Brahms bis zu einer Nummer aus dem Musical „My Fair Lady“ reichte.
Nicht nur das Leben, wie Kirkegaard erkannt hatte, wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden, mit Musik kann es ähnlich sein. Nach einem dunkel wuchtigen, mitunter bleiplattenschweren Programm beendete Igor Levit sein Recital in der Laeiszhalle deswegen auch mit einem sonnigen Balladen-Baiser aus einem nicht-klassischen Entertainment-Klassiker: mit „Wouldn’t It Be Loverly“ aus der guten alten „My Fair Lady“.
Als PS zu sechs Busoni-Bearbeitungen von Brahms-Choralvorspielen, dem Vorspiel aus Wagners „Tristan und Isolde“ und Liszts h-Moll-Sonate war das ein überraschend fluffiger Rausschmeißer, ein offenbar notwendiger finaler Druckausgleich für den Pianisten, nach derart viel Selbstschinderei auf höchstem technischen Niveau. Auch eine versöhnliche Halb-so-wild-Leute-Geste in Richtung der Programmheft-Fallenlasser und Präzisions-Röchler, die Levit als ein Lebenszeichen der zurückgekehrten Konzert-Normalität jovial hinnahm, anstatt sich – letztlich ja immer vergeblich – aufzuspulen.
Igor Levit in der Laeiszhalle: Brahms Abschied von Clara Schumann
Zur Stimmungsabrundung hätte etwas melancholischer Bühnen-Bodennebel gut gepasst. Der Steinway stand vor dem Orgelprospekt, als Medium für das angestrebte Klangideal. Mit diesem Spätwerk nahm Brahms Abschied von einer (wie auch immer ausgelebten) Liebe seines Lebens, von Clara Schumann. So spielte Levit sie auch, voll und sonor die Möglichkeiten vollgriffig ausreizend, verdunkelt, todernst, gottverlassen vereinsamt.
Eines der bestens bekannten Levit-Markenzeichen ist die Vorliebe für klassische, große Variations-Zyklen, von Bachs Goldberg über Beethovens Diabelli und Schostakowitsch bis Stevenson. Die Variationen über den US-amerikanischen Folksong „Shenandoah“, die Fred Hersch als Freundschaftsdienst für Levit geschrieben hat, sind, damit verglichen, vor allem gut gemeint, weil sie mit dem wohlerzogenen Jazz flirten und seine Freiräume zwar anbieten, ohne aber so ganz von der geschriebenen Note zu lassen.
Igor Levit in der Laeiszhalle: Spontane wirkte nicht spontan
Improvisations-Anmutung mit Stützrädern prägt diese Etüden-Runde, von vielem ist etwas dabei. Es bleibt aber zu uneindeutig, um als klassisch sozialisierter Musiker damit so locker umgehen zu können, als wäre es frei knetbare Verfügungsmasse fürs Ausprobieren, fürs Herumstöbern und das zufällige Finden neuer Mosaiksteine. Das Spontane wirkte wie durchbuchstabiert und abgespielt, eben nicht spontan.
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Danach ging der Opern-Kopfkino-Vorhang auf für Wagners „Tristan“. Vom berühmten Akkord aus vertiefte sich Levit mehr und mehr in die Inbrunst und das epische Flackern dieser Fantasie. Dass die Kondition danach noch für Liszts ähnlich fantastische h-Moll-Sonate reichte, für über 30 Minuten virtuoses Zirkeltraining ohne Netz und doppelten Boden, war mehr als erstaunlich. Levit schuf weite Flächen der Ruhe, der verklärten Innensicht und der poetischen Abgeschiedenheit, bevor er sich wieder und wieder brachialbrillant und energiegeladen auf Höchstschwierigkeiten und Abgründe einließ.