Hamburg. Das Busoni-Klavierkonzert mit Igor Levit und Messiaens „Turangalîla“-Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern sorgten für Begeisterung.

Die erste private Portion Klassik danach, zum Runterkommen: ein nettes, kleines, in der Lautstärke harmloses Mozart-Klavierkonzert. Denn gleich zwei der exzentrischsten und sympathisch durchgedrehtesten Stücke für tief eingebettetes Klavier und übergroßes Orchester, mit denen man untertrainierte Virtuosen in Sehnenscheidenentzündungen treiben kann, direkt hintereinander? So etwas ist nur im Großen Saal der Elbphilharmonie zu bestaunen, und selbst dort doppelter Riesen-Zufall. Das brauchte Gegenmittel.

Am Sonntag überwältigte zunächst das Busoni-Klavierkonzert erschöpfend – mit, kein Witz: einem pathetischen Männerchor im Finale, mit gut 70 Minuten das längste, skurrilste seiner Art. Einen Tag später legte Messiaens himmelhochjubelnde „Turangalîla“-Sinfonie nach, zehn prallvolle Sätze mystischer religiöser Ekstase, etwas länger und – ja, das geht, wenn man alle Regler der Wiener Philharmoniker lustvoll auf zwölf dreht, wie Esa-Pekka Salonen es für den Schlussakkord tat – in den lauten Stellen noch sehr viel lauter. Und beides mit Orchestern, Dirigenten und Solisten, die für die jeweiligen Herausforderungen ziemlich ideal waren.

Igor Levit: Yuja Wang sagte kurzfristig ab

Hätte Yuja Wang ihre Messiaen-Teilnahme nicht kurzfristig erkrankt abgesagt, wäre sie, wie es ihre Art ist, wildfröhlich wirbelnd durch den schillernden Klavierpart gerauscht und hätte danach womöglich noch Kraft für die eine oder andere Zugabe gehabt. Für sie sprang Bertrand Chamayou ein, als sehr messiaen-kompetent und eher nicht ganz so funkensprühend bekannt.

Das tat der Faszination dieses sinnlich überschäumenden Gotteslobs keinerlei Abbruch, denn Chamayou arbeitete sich zielstrebig von Solo-Pirouette zu Solo-Pirouette. Und angesichts der furchterregenden Notenmassen und Detailentscheidungen, die es ununterbrochen hagelt, kann man sich für diesen Orchester-Stresstest ohnehin keinen cooleren und effektiver leitenden Dirigenten als Esa-Pekka Salonen wünschen.

Riesen-Apparat elastisch in seiner Spur gehalten

Der Finne behandelte das Ganze, als wäre es eine charmante Aufwärmübung, mit glasklarer, selbstsicherer Zeichengebung, die den Riesen-Apparat elastisch in seiner Spur hielt. Natürlich ohnehin großartig: die instrumentalen Einzelleistungen der Wiener Bläser, die vielen druckvoll treibenden Schlagwerker, das komplett furchtlose Blech, das Glitzern der Streicher.

Für den eigenwilligen, singendsägigen Fiepton mittendrin und obendrauf sorgte die Electronica-Antiquität Ondes Martenot, bedient von der Expertin Cecile Lartigau. John Neumeier hatte das sphärisches Säuseln dieses Instruments über feste Tonhöhen hinweg einmal als „LSD-artige Rauschzustände“ bezeichnet, auch dieser Spezialeffekt kam prominent sonderbar zur Geltung, bevor Applaus losbrach.

Solist hat bei Busoni alle Hände voll zu tun

Vor seinem Auftritt mit dem Busoni-Marathon und Sir Antonio Pappanos Orchestra dell’ Accademia Nazionale die Santa Cecilia aus Rom hatte Igor Levit noch halbernst in seinen Twitter-Account hineingestöhnt: „Ich glaube, es ist leichter, einarmig und einbeinig die Zugspitze zu besteigen, als das Busoni-Konzert zu spielen. Ein blutender Finger und gesplitterter Nagel später und ich LIEBE ES!!“

Was ist von einem Stück zu halten, in das Busoni – selbst ein legendärer Extremvirtuose – sich alle nur denkbaren pianistischen Gemeinheiten in den Solo-Part geschrieben hat? In dem der Solist ständig alle Hände voll zu tun hat, aber oft nur die zweite Geige mit notensprudelnden Grundrauschen spielen darf, weil das substanziellere musikalische Geschehen sich eindeutig und oft episch gedehnt im Orchester abspielt? Dass im Finale, weil Busoni die Text-Vorlage so gut gefiel, auch noch ein unsichtbarer Männerchor mit einem Abschnitt aus einem Aladin-Drama auftritt, um als Gruppe singender Felsbrocken Allah zu lobpreisen, machte dann auch schon nichts mehr.

Igor Levit: Busoni-Fan mit einem Faible für Extremerfahrungen

Also, ja, doch: Sehr viel ist davon zu halten. Aber eben nur, wenn jemand wie Levit, Busoni-Fan mit einem Faible für pianistische Extremerfahrungen, sich so schonungslos gern in die Zumutung hineinarbeitet. Dabei das Spektakeln in Kauf nimmt, aber nicht auch noch aufdringlich in den Vordergrund schiebt. Als Visitenkarte für die Orchester-Qualitäten hatte es zunächst Schönbergs „Verklärte Nacht“ gegeben, mit dem die Italiener allerdings nicht ideal harmonierten, weil sie die aufkeimende Formstrenge zu sehr mit spätromantischer Inbrunst verschönten.

Der Busoni-Kopfsatz begann, als wäre er ein Kind der Liebe von Tschaikowskys 1. Klavierkonzert und genmanipuliertem Rachmaninow. Danach mäanderte das Tutti, formschön von Pappano modelliert, vor sich hin, während Levit spielte und spielte und immer noch eine Menge mehr als eben davor zu bewältigen hatte. Kleine Abzüge in der B-Note, weil der Solo-Trompeter nicht den selbstbewusstesten Abend hatte. Und dann die Turbo-Tarantella, ein einziges Durchdrehen, erst recht im Klavierpart, bis die singenden Steine einsetzten und am Ende ein durchgewalkter, seliger Levit den erkämpften Applaus genoss.

Aufnahmen: Am 9.9. erscheint Igor Levits Album „Tristan“, Werke von Liszt, Henze, Wagner, Mahler (Sony Classical, 2 CDs ca. 18 Euro). Busoni „Klavierkonzert“ Hamelin, CBSO, Elder (Hyperion, CD ca. 15 Euro).