Hamburg. Ein Gespräch mit dem Dirigenten über Selbstverleugnung, Macht und Erfolgsrezepte beim Umgang mit dem Publikum.

„Wenn jemand zu mir sagt, er verstehe klassische Musik nicht, antworte ich: Ich auch nicht, ich weiß nur sehr viel darüber.“ Ein smarter, typischer Welser-Möst, dieser Satz. Der Österreicher gilt nicht als immer nur einfach, aber immer enorm engagiert. Bei den Salzburger Festspielen werden seine Zusammenarbeiten mit den Wiener Philharmonikern regelmäßig gefeiert. Vor einigen Wochen war er zu Gast in der Elbphilharmonie, mit „seinem“ Cleveland Orchestra, das er von Christoph von Dohnányi übernommen hat. Ein Gespräch über Selbstverleugnung, Macht und Erfolgsrezepte beim Umgang mit dem Publikum.

Mit welchem Repertoire sind Sie richtig gut und warum?

Franz Welser-Möst: Schon als junger Mensch hab‘ ich versucht, mich sehr breit aufzustellen. Je breiter die Basis ist, umso höher kann die Spitze werden. Aber wenn mir ein Komponist sehr nahe ist, dann ist es Schubert. Warum? Ich glaube, ich habe einfach versanden, dass der Zugang nur über das Gesangliche möglich ist. Er hat eine sehr kleine, aber unglaublich reichhaltige Welt.

Sie als Österreicher sind da nicht genetisch im Vorteil?

Franz Welser-Möst: Vielleicht schon, aber trotzdem: Das sind alles musikalische Dialekte. Als ich 23 war, hat mir der damalige Vorstand der Wiener Philharmoniker gesagt: Was Sie als Dirigent bis 35 nicht lernen, lernen Sie nicht mehr. Das war ein solcher Schock für mich. Ich habe dann aber verstanden, was er meinte: die verschiedenen musikalischen Sprachen zu lernen. Da muss man sich halt umtun.

Eine Weisheit von Christoph von Dohnányi, Ihrem Vorgänger in Cleveland, hier im Podcast geäußert: Dirigieren ist nicht schwer, Musik machen ist schwer. Also: Was ist schwer an Ihrem Job? Die Musik machen ja die anderen.

Franz Welser-Möst: Die Psychologie. Karajan wurde mal gefragt, warum Sänger so gern mit ihm arbeiten: Ich gebe ihnen jede Freiheit, die sie brauchen, damit sie das tun, was ich will. Innerhalb des Interpretationsrahmens, den ein Dirigent vorgibt, muss ein Orchester sich schon auch selber finden können. Als ich an die Wiener Staatsoper kam, fragte ein Journalist, ob die Wiener Philharmoniker dann wie Cleveland klingen würden. Na sicher nicht, habe ich gesagt, da wäre ich schön dumm, wenn ich das versuchen würde. Man muss die Eigenpersönlichkeit eines Orchesters ernst nehmen und lernen, damit umzugehen.

In den Gratulationen zu Ihrem 60. Geburtstag vor zwei Jahren war eines der beliebtesten Adjektive „streitbar“ und der „Standard“ attestierte ihnen auch „eine gewisse stählerne Unerbittlichkeit“. Ist das ein Kompliment, Schicksal oder schlicht verkehrt?

Franz Welser-Möst: Natürlich braucht es Konsequenz. „Streitbar“ bezieht sich wohl eher darauf, dass ich mich auch zu Themen zu Wort melde, die nicht unbedingt etwas mit meinem Metier zu tun haben, auch politische Fragen. Es ist sicher schon mehr als ein Jahr her, dass ich gefragt wurde, ob ich nicht mit Anna Netrebko arbeiten möchte. Nein. Warum? Für mich bedeutet Oper Gesamtkunstwerk, wo jeder seinen Beitrag zu leisten hat, ich möchte nicht Teil einer Netrebko-Show sein. Fünf Tage vor der Premiere zu Proben kommen, selbst bei Rollendebüts, das interessiert mich nicht.

Sie haben offensichtlich kein Problem damit, die Reißleine zu ziehen, wenn Sie etwas nervt. Von der Wiener Staatsoper haben Sie sich nach wenigen Jahren schon wieder verabschiedet.

Franz Welser-Möst: Schmerzfrei bin ich überhaupt nicht. Aber es gibt einen Punkt, wo man anfängt, sich selber zu verleugnen. Über den gehe ich einfach nicht hinaus, das will ich nicht.

Bei den Salzburger Festspielen, kurz vor Ihrer großen „Trittico“-Premiere, standen Sie noch ganz entspannt plaudernd am Künstlereingang, als ob Sie auf den Bus warten würden. Mit Lampenfieber muss man Ihnen also nicht kommen oder ist das nur gut versteckt?

Franz Welser-Möst: Nein, das ist nicht so. Das hatte zwei Gründe: Die Künstlerzimmer dort sind nicht so wahnsinnig wohnlich und ich bin gern an der frischen Luft. Diesmal allerdings war es das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass ich nervös war. Weil ich zum zweiten Mal Covid hatte, haben wir zwei Orchesterproben verloren und die drei Stücke von „Trittico“ kannten die Wiener Philharmoniker nicht. Aufgrund ihres dichten Programms in Salzburg muss man das mit zwei Mannschaften einstudieren. Bei der Orchester-Hauptprobe haben 90 Prozent der Besetzung, die dann auch Generalprobe und Premiere spielte, „Suor Angelica“ vom Blatt gespielt. So eng war das. Dafür kann ich den Philharmonikern gar nicht genug Rosen streuen.

Wie schafft man es, sich mit einem Orchester-Ego wie dem der Wiener Philharmoniker dauerhaft gut zu stellen? Dass die so spielen, wie sie mit – oder eher: für Sie spielen?

Franz Welser-Möst: Na ja, unsere Beziehung ist langsam gewachsen. Bei der Mozartwoche 1998 habe ich debütiert, das ging gar nicht gut. Ich war nicht gut. Mich hat erstaunt, dass sie mich danach trotzdem für ein Abo-Konzert eingeladen haben. Jetzt ist es halt so, wie deren Vorstand Daniel Froschauer immer wieder sagt: Du bist einer von uns.

Wie lang braucht es Ihrer Meinung nach, um ein Stück komplett zu verstehen?

Franz Welser-Möst: Verstehen ist ein sehr großes Wort. Wenn jemand zu mir sagt, er verstehe klassische Musik nicht, antworte ich: Ich auch nicht, ich weiß nur sehr viel darüber. Das ist ein permanenter Suchvorgang. Neulich, nach einer Schubert-Es-Dur-Messe, wurde ich gefragt, ob ich zufrieden sei. Nein! Zufrieden bin ich nie. Glücklich kann ich damit sein, wissend um die Mängel, die es in jeder Aufführung gibt. Perfektion gibt es nicht.

Bei Ihren Konzerten hier in Hamburg dirigieren Sie auch Bruckner, die Neunte. Muss man gläubig sein und im Idealfall katholisch, um mit dieser Musik klarzukommen?

Franz Welser-Möst: Müssen Sie eine Mörderin sein, um Tosca wirklich glaubhaft darzustellen? Ich bin sehr katholisch aufgewachsen und war acht Jahre Ministrant… Es geht um eine Sprache, die zu lernen ist. Man kann sich diese Dinge aneignen. Aber im Fall von Bruckner bin ich natürlich froh, dass mir meine Kindheit und Jugend einen gewissen Vorteil verschafft haben.

Vom gläubigen Bruckner zur sinnlichen „Salome“, ein harter Schnitt: Bei der Premiere in Salzburg 2018 staunten bei uns in der Journalisten-Reihe alle gemeinsam, weil die Sopranistin Asmik Grigorian in der Hauptrolle so toll und die Vorstellung derart großartig war. Die New York Times schrieb, Sie würden Grigorian quasi ständig auf den Knien anflehen, mit Ihnen eine „Tosca“ zu machen. Wie weit sind Sie damit?

Franz Welser-Möst: Noch nicht sehr weit. Das würde mich mir sehr von ihr wünschen. Irgendwann wird es kommen. Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben jemals ein so komplettes Paket wie sie erlebt habe. Die Frau hat eine tolle Stimme, ist hochmusikalisch und hochintelligent, sieht fantastisch aus, ist irrsinnig bescheiden und wahnsinnig diszipliniert. Und der Erfolg nach dieser „Salome“ hat sie nicht korrumpiert. Sie ist ein Schatz.

Dass diese Premiere ein Once-in-a-lifetime-Abend gewesen sein wird, war Ihnen das damals schon so klar?

Franz Welser-Möst: Das war uns allen in dem Moment wirklich bewusst. Wir sind anderthalb Jahre, immer wieder, Wort für Wort, Phrase für Phrase, Takt für Takt, ihre Partie durchgegangen. Ich habe ihr die ganze Partitur erklärt. Sie hört da sehr genau zu und hat das Talent, sich alle Informationen zueigen zu machen.

Lesen Sie lieber eine Partitur oder ein gutes Buch? Wie lesen Sie eine Partitur, wie ein Kochbuch, so dass im inneren Ohr schon ein Klang passiert und sie den in der Probe anstreben?

Franz Welser-Möst: Ich höre schon, was ich in der Partitur sehe. Aber das ist ja nur ein geringer Teil. Es geht darum, so ein Meisterwerk zu analysieren und in den Kontext zu stellen.

Also ist das Proben der schönere Teil des Jobs?

Franz Welser-Möst: Ja, eigentlich schon.

Ich habe einen O-Ton von Ihnen gefunden: „Dirigenten entschuldigen sich nicht gern.“ Wie definieren Sie die Macht eines Dirigenten und wie die des Dirigierens?

Franz Welser-Möst: Macht ist ein Begriff, über den ich wirklich jeden Tag nachdenke. Für mich heißt führen einer Institution zu dienen. Es darf nicht um mich gehen. Machtausübung darf nicht zur Egoistenveranstaltung werden. Diese Macht ist ein Mittel, um etwas Positives zu bewegen.

„Ihr“ Cleveland Orchestra soll für Cleveland etwas ganz Besonderes sein.

Franz Welser-Möst: Das ist ein Phänomen. Wenn man irgendwo in der Stadt sagt, dass man etwas mit dem Cleveland Orchestra zu tun hat…

… gibt es einen Kaffee aufs Haus…

Franz Welser-Möst: … Das nicht, aber die Leute wissen sofort, worum es geht. Mit Cleveland ging es immer wieder in Wellen wirtschaftlich bergab, aber das Orchester hat sich die Stadt nie nehmen lassen, im Gegenteil, es heißt: Das ist das Wichtigste, was wir haben, das müssen wir gesund halten. In der Pandemie-Zeit haben wir viel weniger gelitten als andere US-Kollegen und gehen sehr optimistisch in die neue Saison.

Auch auf dieser Seite des Atlantiks könnte man davon lernen. Was machen Sie richtiger als andere?

Franz Welser-Möst: Als ich vor 20 Jahren dorthin kam, habe ich gesagt: Runter vom hohen Ross, raus aus dem Elfenbeinturm. Wir nehmen das Publikum nicht für selbstverständlich, sondern gehen aktiv auf sie zu, und wir unterfordern sie nicht. Gerade bei jungen Menschen ist das eine Todsünde. Die wollen ernst genommen und nicht dauernd belehrt werden.

Erfolg ist also freundliche Überforderung?

Franz Welser-Möst: Erfolg ist ein Ernstnehmen des Publikums. Wir haben seit zehn Jahren das ungefähr jüngste Publikum in den USA. Wenn jemand meint, das sei doch „ungebildet“ – das kann man auch als Vorteil sehen. Dass sie nicht ver-bildet sind und hoffentlich offen zum ersten Mal in die Konzerte gehen. Geben wir ihnen Qualität und Leidenschaft, ist die Chance sehr groß, dass es ihnen gefällt. 90 Prozent kommen bei uns wieder. Die Menschen haben ein Anrecht auf die bestmögliche Aufführung, ob das Berg oder Bach ist, spielt überhaupt keine Rolle. Man muss ihnen ein Erlebnis bieten.

Film über Igor Levit: Spielen bis zur völligen Erschöpfung


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  • Mit einem ohnehin schon tollen Orchester auch tolle Musik zu machen, ist nicht unbedingt eine Kunst. Reizt es Sie nicht, ein C-Orchester mal so richtig nach oben zu trainieren?

    Franz Welser-Möst: Ich bin jetzt 62 und spüre mehr und mehr den Drang in mir, dass ich etwas an junge Menschen weitergeben muss. Natürlich können Sie ein Team als solches verbessern, doch was Sie nicht beeinflussen können: Jemand kann Oboe spielen. Aber in so einem Orchester nur bis zu einem gewissen Punkt, es wird dann eben nicht ein Berliner Philharmoniker aus ihm. Das ist wie im Fußball. Ein guter Trainer kann vielleicht in die Bundesliga aufsteigen, doch Sie brauchen schon auch das entsprechende Personal.

    Ist es bei der Sponsorenpflege für ein US-Orchester noch so, dass Sie die berühmte blauhaarige Industriellenwitwe ein Abendessen lang ertragen müssen, damit es den nächsten Scheck gibt?

    Franz Welser-Möst: Nein, absolut nicht. Im letzten Herbst haben wir von einer Stiftung 50 Millionen Dollar geschenkt bekommen, da hat es überhaupt keine Bedingungen gegeben, dass der Musikdirektor essen oder auf einen Segeltörn gehen müsste. So etwas habe ich nie erlebt.

    Wann muss man sich als Orchestermusiker in Proben bei Ihnen eher vorsehen: Wenn Sie laut werden – oder wenn Sie leise werden?

    Franz Welser-Möst: Wenn ich leise werde. Brüllen bringt überhaupt nichts. Der Intendant Alexander Pereira hat einmal zu einem Regisseur gesagt: Wer brüllt, hat schon verloren.

    Was macht für Sie den Unterschied zwischen einem guten und einem sehr guten Dirigenten aus?

    Franz Welser-Möst: Die intensive Beziehung mit den Musikern. Bei der Beurteilung von Dirigenten glaubt man gern, es sei ganz toll, wenn jemand da vorn gymnastische Übungen vollführt. Doch dann schaut man in die Gesichter im Orchester und merkt: Die haben davon gar nichts. In den Gesichtern der Musiker zu lesen, wie die Beziehung ist, das macht den Unterschied aus.

    Orchester und Dirigenten können also tatsächlich Freunde sein.

    Franz Welser-Möst: Es kommt a bisserl darauf an, wie man „Freund“ definiert. Wenn die Beziehung von großem gegenseitigem Respekt getragen ist, muss man nicht mit jedem befreundet sein, um gut miteinander arbeiten zu können. Respekt, der sich auch in einer Zuneigung ausdrückt, das ist sehr wohl möglich.

    Aktuelle Aufnahmen: Strauss „Macbeth / Don Juan / Till Eulenspiegel“ Cleveland O, Welser-Möst (Note 1, CD ca. 22 Euro). Igor Levit „Tristan“ u.a. mit Henzes „Tristan“-Préludes für Klavier, Tonbänder und Orchester. Gewandhausorchester Leipzig, Welser-Möst (Sony Classical, 2 CDs, ca. 18 Euro)