Hamburg. „Igor Levit. No Fear“ zeichnet das Porträt eines in vielerlei Hinsicht ungewöhnlichen Pianisten – und seiner besonderen Karriere.
Die stärksten, erschreckendsten, wahrhaftigsten Szenen kommen ganz ohne Worte aus. Und manche ohne Töne. Diese Blicke hinter die Profi-Kulisse, durch die Haarrisse der Fassade, dorthin, wo Zweifel und Einsamkeit auf ihre nächste Chance zum Festbeißen lauern, die traut sich nicht jeder zu gewähren. Ein Studio, der x-te Schnipsel von Stevensons monströs schwerer „Passacaglia on DSCH“ ist im Kasten.
In der Mitte des Raums parkt unbeeindruckt das Arbeitsgerät Flügel, daneben, platt auf dem Boden und keinen Finger mehr rührend: Igor Levit. Der furchtlose Virtuose, der angeblich doch alles spielend spielen kann. Jetzt ist er liegend k.o., für eine gar nicht mal so kurze Ewigkeit.
Kino Hamburg: Intime Momente in Levits Karriere
Die reine Show für die Kamera wird das schon nicht gewesen sein. Viele Aufnahmesitzungen dürften ähnlich ablaufen. Das sind immer schwere Geburten; dann wird zäh um jedes Detail gerungen, weil man es kann, bis es wirklich gut genug ist, und weil einem niemand zusieht oder zuhört. Aber auch die Dauerdroge Applaus muss man sich denken.
Eine Album-Einspielung früher, bei seinem Beethoven-Sonaten-Marathon, kuschelt sich Levit an den brummbärig väterlichen Produzenten und Tonmeister Andreas Neubronner, als wären sie in einer Geburtsklinik, stundenlange Wehen ertragend.
Kino Hamburg: Zuschauende können Levits Karriere verfolgen
Beim Abhören der Aufnahme tastet Levit den Rhythmus sanft auf dessen Unterarm. Das Baby kommt, die glücklichen Eltern spüren das und freuen sich miteinander. Als sich die beiden bei den Bach-Busoni-Aufnahmen für Levits „Life“-Album wiedertreffen, vertänzeln sie die Musik geradezu, rührend ungelenk. In einer Nahaufnahme von Levits Gesicht bei einem anderen Take ist unmittelbar zu sehen, wie hautnah die Erschütterungen seinem Gemüt kommen, er altert, in Sekunden, und leidet, wie ein Tier.
Diese Art von Nähe und Offenheit ist einer von vielen Treibstoffen, die Levit in seiner Umlaufbahn, in seinem Universum im Gleichgewicht halten müssen. Natürlich ist er damit kein Einzelfall, alle Künstlerinnen und Künstler ersehnen, fürchten, brauchen das zum Weitermachen. Sind sie auch nur kurz auf Wahrnehmungs-, oder eher: Liebes-Entzug, gehen sie ein wie ungegossene Primeln.
108 Auftritte waren für 2020 geplant – es kam dann aber ganz anders
Die Berliner Regisseurin Regina Schilling hatte 2018 mit „Kulenkampffs Schuhe“ das Psychogramm einer Generation erzählt, festgemacht an der Karriere einer frühen TV-Entertainer-Legende. Schilling verkneift sich Fragen und Kommentare aus dem Off, sie lässt ihr Thema durch seine Twitter-Nachrichten sprechen. In ihrer Dokumentation „Igor Levit – No Fear“ ist zunächst eine buchstäblich klassische Heldenreise zu sehen: Vom Wunderkind aus Russland über den Wettbewerbs-Moppel in zu großer, viel zu alter Smoking-Verkleidung.
Die Selbstverschlankung und Neuerfindung, auch aus Trotz. Trostsuche bei Älteren wie dem Dirigenten Franz Welser-Möst oder Marcus Hinterhäuser, dem Intendanten der Salzburger Festspiele, mit dem nicht über Phrasierung und Pedalgebrauch geredet, sondern der rasiermesserscharfe Gitarren-Sound des Blues-Giganten Muddy Waters bestaunt wird.
Kino Hamburg: Die Kamera hat Levit lange begleitet
Der fast Zweistünder ist über weite Strecken eine konventionell interessante Karriere-Abfilmung und zeigt Levits Da- und sein So-Sein von Mai 2019 bis Dezember 2020: Levit mit Panik im Gesicht, als der Flügel rumpelnd durch das nadelöhrenge Treppenhaus in seine Wohnung gewuchtet wird. Levit beim Tigern hinter der Bühne, bevor es im Amsterdamer Concertgebouw zu Beethovens Opus 109 raus in die Manege geht. Levit beim Interview-Dauerlauf zur neuen Platte, von einem Mikro zum nächsten. Levit, selbstverloren ekstatisch, wie er sich selig schwitzend in den letzten Satz der „Waldstein“-Sonate wirft, wie ein Tabletten-Junkie ins Pillenbad.
Levit mit Schäuble im Thalia Theater, über 70 Jahre Grundgesetz diskutierend. Levit im Tournee-Stress, eine Garderobe so nüchtern wie die nächste; anonyme Einspiel-Flügel; Techniker, die am Flügel herumpolieren. Nach dem Konzert war immer vor dem Konzert. Im Januar 2020 standen furchterregende 108 Auftritte für das Jahr im Kalender. Es sollte wenige Wochen später nicht nur für ihn ganz anders kommen. All das ist aufrichtig, mutig, gut beobachtet.
Kino Hamburg: Der Film zum Bestseller-Buch "Hauskonzert"
„No Fear“ ist auch sehr der Bonus-Film zum Bestseller-Buch „Hauskonzert“, das Levits Aufs und Abs vor, während und nach der Phase der Corona-Lähmung schilderte. Als er aus seiner Wohnungs-Einzelhaft mit Social-Media-Auftritten gegen den Frust und die dann noch stärkere Einsamkeit und Verzweiflung anspielte. So wurde er zum Idol vieler, die davor eine ganze Beethoven-Sonate für so ziemlich kein Geld der Welt über sich hätten ergehen lassen, nun aber Tränen der Begeisterung und Rührung in ihren Augen entdeckten und Levits Twitter-Account mit Herzen fluteten.
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Die Kameras waren auch am 10. März 2020 dabei, als Levit – es war sein 33. Geburtstag – mit der Kammerakademie Potsdam im Großen Saal der Elbphilharmonie das 3. und das 5. Beethoven-Konzert spielte. Danach trieb Corona alles und jeden in die Zwangs-Stille. Verstummen lassen ließ sich Levit nicht, bis hin zu seinem Auftritt als Protest-Pianist gegen die Abholzung des Dammröder Forsts bei eisigen Dezember-Temperaturen: Rzewskis trotzig-stolze Kampfansage „The People United Will Never Be Defeated“ spielte er auch und erst recht für den einen vermummten Polizisten, der diese Aktion besichtigte und sich zu fragen schien, was da auf der anderen Seite des Bauzauns passierte.
„Igor Levit. No Fear“ läuft ab dem 6.10. im Abaton. Am 10.10. (19.30 Uhr) wird der Film in Anwesenheit von Levit und der Regisseurin Regina Schilling gezeigt. Album: „Tristan“ Werke von Liszt, Henze, Wagner, Mahler (Sony Classical, CD ca. 18 Euro). Buch: Igor Levit / Florian Zinnecker „Hauskonzert“ (Hanser, 304 S., 24 Euro). Konzert: 7.12., 20 Uhr, Laeiszhalle, Gr. Saal. Werke von Hersch, Brahms, Wagner und Liszt