Hamburg. Die scheidende Choreografen-Legende stellte in der Buchhandlung Felix Jud ein neues Muss für alle Neumeier-Fans vor.

Die Buchhandlung Felix Jud & Co. am Neuen Wall ist bekanntlich sehr schmal und erstreckt sich über mehrere Stockwerke mit vielen Treppen. Ein durchaus ungewöhnlicher Ort, um eine Lesung abzuhalten. Aber jeder freie Sitzhocker und auch alle Treppenkissen sind belegt, als Hamburg Ballett-Intendant John Neumeier gemeinsam mit seinem Kommunikationsdirektor und Dramaturgen Jörn Rieckhoff den Band „50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier. Bilder einer Ära“ präsentiert.

Das von dem Hausfotografen des Hamburg Balletts, Kiran West, sehr großzügig und in einem schönen Format gestaltete Buch ist natürlich ein absolutes Muss für alle Neumeier-Fans.

John Neumeier: Wie soll man 50 Jahre Hamburg Ballett wirklich begreifen?

Er komme direkt von einer Probe für seine neue Kreation „Dona Nobis Pacem“. Und auch jetzt fühle es sich für ihn an, als stünde er ganz am Anfang, erzählt John Neumeier. „Ich kämpfe mit meiner Choreografie“. Und daran merkt man bereits, wie der Künstler, der kreative Mensch John Neumeier immer in der Gegenwart lebt und mit dem Ballett als einer äußerst flüchtigen, immer nur im Augenblick existierenden Kunstform umgeht.

Bereits in seinem Grußwort sinniert die Choreografen-Legende darüber, dass sie ein Problem mit dem Empfinden von Zeit habe. Wie soll man auch die 50 Jahre wirklich begreifen, die Neumeier nun dem Hamburg Ballett vorsteht? Der Ruf Neumeiers von Frankfurt nach Hamburg rührt aus einer Zeit, als es noch keine Findungskommissionen gab. August Everding griff damals einfach zum Telefonhörer, erzählt John Neumeier.

Eigentlich wollte Neumeier eine Autobiografie schreiben

An einen frühen Arbeitstag, den 9. September 1973, habe er sehr konkrete Erinnerungen. „Im Unterschied zu einem freischaffenden Künstler, der an seinem neuen Kunstprodukt interessiert ist, hatte ich die große wichtige Aufgabe, ein Ensemble aufzubauen.“ Und dazu gehörte für ihn auch die Erkenntnis, dass das Ensemble so viel tanzen müsste, wie möglich, woraus sich die beliebten Ballettwerkstätten entwickelten. Zeigen und Erklären. Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, das sind im Umgang mit seinem Ensemble bis heute die Konstanten der Zusammenarbeit.

Eigentlich hatte John Neumeier während des Lockdowns überlegt, eine Autobiografie zu schreiben. Doch dann erschien ihm die Sichtung seines schier unendlichen Fundus von fotografischen Dokumenten zunächst leichter umsetzbar. Am Ende ging es auch hier um eine „Kunst des Weglassens“.

John Neumeier: Neuer Bildband zeigt zum Teil unveröffentlichte Fotos

Jedes Jahrzehnt ist mit einem knapp gehaltenen inhaltlichen Schwerpunkt genau dokumentiert. Alle Ballette sind aufgeführt – zum Teil mit bislang unveröffentlichten Fotos. Alle Tänzerinnen und Tänzer, die jemals Teil des Hamburg Balletts John Neumeier waren, werden genannt. Ein umfangreiches Register gibt am Ende Aufschluss über die Fakten und eignet sich auch als Nachschlagewerk. „Geschichte ist wichtig“, so John Neumeier. Dass alle Daten, Zahlen und Fakten stimmen, war ihm zuletzt vor allem entscheidend in der Vorbereitung der Produktion „Die Unsichtbaren“, die er mit dem Bundesjugendballett erarbeitet hat und in der es um verfolgte Tanzschaffende der NS-Zeit ging.

John Neumeier erweist sich auch an diesem Abend als anregender Gesprächspartner, der aus einem schier unendlichen Fundus an Erfahrungen schöpft. Auch die Begegnung mit dem Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein, aus der rasch eine Freundschaft erwuchs, gehört dazu. Am Ende, als es ans Signieren der Bücher geht, reicht die Schlange der Wartenden fast durchs gesamte Haus.

John Neumeier, Jörn Rieckhoff: „50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier. Bilder einer Ära“, 256 Seiten, Henschel Verlag, 49 Euro; www.hamburgballett.de