Hamburg. Katie Mitchell inszeniert den Klassiker am Deutschen Schauspielhaus radikal anders. Das gefiel nicht allen.
Wenn Bäume sprechen könnten, was würden sie erzählen? „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow gehört zu den großen kanonischen Dramen der Theatergeschichte und sorgt auch beim Publikum für eine gewisse Erwartungshaltung. In Katie Mitchells Version, die – ergänzt um Texte von Dawn King – jetzt am Schauspielhaus Premiere feierte, dampft weit und breit kein Samowar. Und die Gespräche sind oft bis ins Unverständliche gedämpft. Die britische Regisseurin hat ein Gespür für die Tradition, aber ihr geht es immer und unbedingt ums Heute. Entsprechend polarisiert ihr auf knapp 90 Minuten reduzierter „Kirschgarten“: viele Bravos, aber auch ein paar beherzte Buhs.
Tschechows „Kirschgarten“: Bäume rücken in den Focus
In ihrer Inszenierung rückt die Theatermacherin die Bäume des bedrohten Kirschgartens in den Fokus. Die Menschen kommen in dieser Welt als Streitende, exzessiv Feiernde und auch als ungelenk Liebende vor. Vor allem aber als gedankenlose, ichbezogene Wesen, die die Natur mit leeren Bierflaschen oder benutzten Kondomen verunstalten. Mitchell hat bereits vielfach mit filmischen Mitteln im Theater experimentiert. Häufig hat sie dabei Live-Filme produziert. Zuletzt, etwa in „Bluets“, hatte sich das Schauspielerische fast ins Hörspiel verabschiedet. Das ist auch an diesem Abend so.
Die Zuschauer blicken auf eine gigantische dreiteilige Filmleinwand, darauf wunderschöne, naturalistische aber auch mit Lichteffekten ästhetisierte Bilder und Makro-Aufnahmen eines idyllischen Kirschgartens. Vogelschwärme, Blüten, Schmetterlinge, Dachse, Igel, Fledermäuse, der kritische Blick einer Eule – viel Himmel. Links darunter hat Bühnenbildner Alex Eales eine verglaste Tonkabine platziert, in der das Ensemble als Kirschgarten-Personal mit Kopfhörer und Textbuch versehen, die Erzählung durch reine Sprache performt und mit allerlei Hilfsmitteln auch für die Geräuschkulisse sorgt. Am rechten Bühnenrand agiert ein Kammerensemble in einem eigenen verglasten Studio.
Das Geschehen auf dem Gut ist von der Zerstörung der Natur überlagert
Hier nun ist nicht das Jahr 1900 wie noch bei Tschechow, hier ist alles von der Naturzerstörung überlagert. Julia Wieninger kehrt als Gutsbesitzerin Ranjewskaja, aus Paris zurück, wohin sie mit einem Geliebten nach dem Unfalltod ihres Sohnes geflohen war. Noch scheint sich das Geschehen nach Art des russischen Klassikers abzuspulen. Das Anwesen – ein schönes, weiß getünchtes Gutshaus flimmert über die große Leinwand – ist überschuldet und muss versteigert werden. Doch die Gutsbesitzerin hat in Frankreich ihr Geld durchgebracht und schwelgt nur mehr im nostalgisch verklärten Gestern.
Der ehemalige Leibeigene Alex (Tilman Strauß für den erkrankten Christoph Jöde) denkt nun an eine Vermietung an Sommergäste unter der Voraussetzung des Abholzens des Kirschgartens. Das einzige alternative Szenario wäre die Eheschließung von Warja, der von Sandra Gerling gegebenen Pflegetochter der Ranjewskaja, mit Alex, doch zwischen diesen beiden gibt es keine Annäherung. Stattdessen knüpft die junge Tochter Anja (Eva Bühnen) zarte Bande mit dem von Paul Behren gegebenen ehemaligen Erzieher des ertrunkenen Sohnes. Man tanzt noch am Abgrund, für den ein Techno-DJ hier auch mal den Takt vorgibt. Am Ende wird das Landgut versteigert und die Abholzer rücken mit ihren Kettensägen an.
Von Tschechows Text bleiben nur wenige Kernaussagen übrig
Vom Text bleiben an diesem Abend wenige Kernaussagen übrig. Dafür wird der Zuschauer von suggestiven Bildern in die Film-Ebene hineingesogen. Die aufgehende Sonne verströmt ihr gleißendes Licht und überlagert die daliegende Welt. Man folgt den Jahreszeiten, von der Kirschblüte im Frühling bis zu den kargen Ästen im Winter. In diese Landschaft werden die Ensemblemitglieder gelegentlich vor einem Green Screen von Live-Kameramann Severin Renke hineingeschnitten.
All die Dramen zwischen den Figuren, sie sind im Kern auch in dieser Inszenierung vorhanden, aber ganze Passagen bleiben tonlos, für das Publikum unverständlich im Kabinen-Innern. Das ist ein bewusster, so manchen sicher provozierender Kunstgriff, denn so wie die verarmte Ranjewskaja hier die Realität nicht wahrnehmen will, ignoriert die Weltgemeinschaft, vertreten durch unentschlossene Politiker und ihre wohlfeilen Reden, noch immer den Abgrund, an dem die Erde heute steht.
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Tschechows "Kirschgarten": Richtungswechsel nach gut einer Stunde
Nach einer guten Stunde dann ein Richtungswechsel und das Geschehen spielt sich in variierten Geschwindigkeiten umgekehrt ab. Handwerklich beeindruckend laufen die Schauspielerinnen und Schauspieler rückwärts, bewegen sich ruckartig in der Ton-Kabine, murmeln Unverständliches. Aber lässt sich die Katastrophe tatsächlich aufhalten?
Mitchell hat mit Inszenierungen Aufsehen erregt, in denen sie die Live-Performance auf der Bühne mit einer atemberaubend genau getimten Filmmaschinerie irritierte, die die vielen Kunstgriffe ihrer Herstellung immer auch gleichzeitig bloßlegte. Stärker noch waren aber jene Arbeiten, in denen sie auf die Kraft des Schauspiels vertraute. „Anatomie eines Suizids“ etwa. „Der Kirschgarten“ ist wohl ihre bislang radikalste Inszenierung. Mit letzter Konsequenz folgt sie der Form-Idee, kreiert eine Bild- und Klanginstallation. Und die hinterlässt einen starken Eindruck. Beim Rückwärtslauf angekommen, ist die Idee jedoch verstanden, wirkt ein wenig selbstgefällig, irgendwann auch ermüdend. Bewusst geht das Konzept auf Kosten des unterbeschäftigten Ensembles.
Mitchells Anliegen flimmert gleich zu Beginn über die Leinwand: „Wenn wir weiter die Natur misshandeln, wird sie kollabieren, und wir mit ihr“, heißt es da. Im Grunde ist dieser Abend eine Erinnerung daran, dass, wenn die Kirschbäume gestorben sein werden, auch das Theater nicht mehr existieren wird.
„Der Kirschgarten“ weitere Vorstellungen am 28.11., 8.12., 26.12., 5.1., Deutsches Schauspielhaus; Karten: www.schauspielhaus.de