Hamburg. Philip Glass’ Oper „Einstein on the Beach“ ist ein ganz besonderes Stück. Nicht nur die Musik hatte hier ihr Eigenleben.
Warum er seiner Oper den Titel „Einstein on the Beach“ gegeben habe, wurde Philip Glass einmal gefragt, der Physiker und Zungenzeiger würde darin doch gar keine Rolle spielen, erst recht nicht an einem Strand. „Irgendwie haben wir das Stück doch nennen müssen…“, war Glass’ tiefenentspannte Antwort. So ist das mit diesem sonderbaren Ding aus Akkorden und ständig neuen Phasen- und Phrasenverschiebungen: Es kann alles oder nichts bedeuten.
Sein „Einstein“ ist eine Vertonung von Schrödingers Katze, diesem berühmten Gedankenexperiment aus der Quantenmechanik, die zugleich leben könnte und auch nicht. Es ist alles oder nichts zugleich ohne den Raum und das Publikum, in dem und mit dem es beginnt und stattfindet, bis es vorbei ist. Ziemlich radikale Einstellung, auch nach knapp einem halben Jahrhundert noch. Und überhaupt: Oper? Keine Handlung, ohne Hauptfigur?!? Sehr relativ.
Elbphilharmonie: Musik umspült das Publikum
Deutlich kürzer als die Originalversion, mit dreieinhalb pausenlosen Stunden immer noch keine Kleinigkeit, geriet Glass’ erste große Musik-Theater-Mutation konzertant als wilder Fremdkörper in den Spielplan der Elbphilharmonie. Dass es die Stimmen des Collegium Vocale Gent waren, eines Ensembles also, das auf die Strukturen Alter Musik spezialisiert ist und nicht auf die minimalistische Avantgarde des späten 20. Jahrhunderts, ist eine der vielen schönen Pointen. Wer sich in dieses Stück begibt wie in Alices Kaninchenbau, kommt darin nicht um, aber weiter. Warum etwas passiert, wird unwichtig.
Der Große Saal war freudig gespannt und, bunt gemischt, sehr gut gefüllt; das gab sich hin und wieder, weil ausdrücklich Teil der Show war, nach Lust und Laune gehen und wiederkommen zu dürfen. Der Musik war das egal. Sie umspült einen, als sanftmütiges Angebot, sich in sie fallen zu lassen und sich über kurz oder lang in diesem Labyrinth aus elementaren Harmonie-Bausteinen zu verlaufen.
Flow blieb erhalten
Oder eben nicht, falls sich der kleine Erfrischungsgetränk-Durst meldete oder die 20-Uhr-„Tagesschau“ gerade interessanter schien. Man konnte auch straffrei den idealen 28cm-Pfannendeckel ergoogeln, ja warum denn nicht. Es ist doch nur Musik. Es ist doch immer noch Musik hinter den schweren Saaltüren, sobald man wieder zu ihr zurückkehrt. Nur das zählte.
Ganz harmlos fing es an, mit den kreisenden Bass-Tönen F, G und C. Der Chor zählte von eins bis acht, kam dabei kunstvoll ins Stolpern und fand damit aus dem regulären Takt-Schema in seinen ganz eigenen Takt. Ein Perioden-System aus Patterns entstand, in dem sich alles über- und gegeneinander schob. Ratternde Triolen lösten leicht anders ratternde Achtel-Figuren ab, die Instrumente und die Klangfarben wechselten hin und wieder, der Flow blieb erhalten.
Auch das Licht hatte ein Eigenleben
Es gab Passagen, in denen der Chor die Bezeichnungen der Tonhöhen sang, die er sang und sich so nur noch tiefer in seine Selbstreferenz hineinschraubte. Der Geiger des Brüsseler Ictus Ensemble hatte besonders gut zu tun, doch auch die beiden Keyboarder dürften am Ende des Abends einer amtlichen Sehnenscheidenentzündung deutlich näher gewesen sein. Eine Klangtapete morphte sich bis zum Gedankenhorizont.
Nicht nur die Musik hatte ihre Eigenleben, auch das Licht. Es pulsierte, wurde mal heller, mal dunkler, atmete mit mit dem Saal, dazu hin und wieder Farbwechsel oder kleine Scheinwerfer-Spielereien. Man kann das als klitzekleinen, harmlosen Wink in Richtung Einstein deuten, der es ja beruflich auch sehr mit Licht hatte, von Zeit und Raum gar nicht zu reden.
Elbphilharmonie: Irgendwann war einfach Schluss
Extrem schade, dass damit das Maß der Möglichkeiten dieses Aufführungs-Raums aber auch schon ausgereizt war. Eine Glass-Oper ohne auswuchernd fantasierende Illustrierungen – Robert Wilson hat seit der legendären „Einstein“-Premiere 1976 mit seinen ikonischen Bilderrätseln immer wieder Maßstäbe definiert – ist und bleibt nun mal nur eine halbe Glass-Oper, da kann die Umsetzung der Notenmaterialberge noch so magnetisch wirken und noch so brillant passieren.
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Verleserin passend eigenwilliger Texte war Suzanne „Tom’s Diner“ Vega, eine gute Bekannte von Glass. Mit ihrer zeitlos jugendlichen, elfengleichen Stimme deklamierte sie die „Knee Plays“, diese surreal passende Befindlichkeits-Prosa, die mit ihren Rhythmen eine weitere Klang-Schicht aufzog. Und irgendwann war so einfach Schluss, wie es begann. Zu früh.
Konzertmitschnitt: www.elbphilharmonie.de