Hamburg. Umweltaktivistin Luisa Neubauer liest zum Abschluss des Harbour Front Festivals. Doch nicht ihr Buch ist der Knalleffekt des Abends.
Ein untypisches Publikum hat sich zum Abschluss des Harbour Front Literaturfestivals in der Laeiszhalle versammelt: tendenziell eher jugendlich, tendenziell eher weiblich, hohe Dutt- und Stofftaschendichte. Es liest Umweltaktivistin Luisa Neubauer, das Gesicht der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung und als solche eine Identifikationsfigur für eine junge, verantwortungsbewusste, akademisch-bürgerliche Zuhörerschaft.
Außerdem eine alte Bekannte – Festivalleiter Nikolaus Hansen kündigt die heute 26-Jährige als „Stammgast bei Harbourfront“ an, man weiß also, was man bekommt. Zudem schließt sich mit der Veranstaltung ein Kreis: Am 8. September eröffnete Maja Göpel das Festival ebenfalls mit einem gesellschaftspolitischen Thema, da ist es nur folgerichtig, dass Neubauer gesellschaftspolitisch einen Abschluss findet.
Gelungene Überraschung in der Laeiszhalle: Doppellesung
Wegen des eigentlichen Knalleffekts des Abends können die vielen Besucher freilich gar nicht gekommen sein: Neubauer stellt ihr Buch „Gegen die Ohnmacht. Meine Großmutter, die Politik und ich“ vor, das sie gemeinsam mit Dagmar Reemtsma geschrieben hat, ihrer 1933 geborenen Großmutter.
Aber dass es sich hier nicht nur um die Lesung einer jungen Frau handelt, sondern tatsächlich um eine Doppellesung, bleibt geheim, bis Moderator Jens Büchsenmann die Bühne betritt, am Arm die Endachtzigerin. Eine Überraschung – und zwar tatsächlich eine gelungene. Das Publikum tobt.
Neubauer: Erinnerungen an politische Nachmittage in Elbvororten
Denn, bei allem Respekt für Neubauer: Die Großmutter ist die interessantere Person. Aufgewachsen ist sie in Ostpreußen, kurz vor Kriegsende wurde der Vater im KZ Stutthof umgebracht. Später heiratete sie den Zigarettenfabrikanten Feiko Reemtsma und wurde so Teil der höheren Hamburger Gesellschaft, engagierte sich in der Anti-Atomkraft-Bewegung und politisierte so ihre Enkelin. Immer wieder beschreibt Neubauer in dem Buch Proustsche Madeleine-Momente.
Wenn sie heute vor dem Garten ihrer Großmutter in den Elbvororten steht, weckt das Erinnerungen an gemeinsame Freitagnachmittage voller politischer Diskussionen. Diskussionen, in denen Neubauer schon als Teenager immer das Gefühl gehabt habe, ernstgenommen zu werden – unbedingte Voraussetzung für politisches Engagement. Und auch für das Selbstbewusstsein, mit dem Neubauer sich bis heute in Diskussionen stürzt.
Auch heute noch erweist sich Dagmar Reemtsma nicht etwa als gebrechliche Greisin, sondern als aufgeweckte, ältere Dame, der einerseits der Schalk im Nacken sitzt, die andererseits bis heute engagiert am Geschehen um sie herum teilnimmt. Ein Teil des Abends besteht aus Beschreibungen, wie sie ihre Nachbarn zu überzeugen versucht, auf Laubbläser im Garten zu verzichten, weil diese ein ökologischer Frevel seien. Mit durchwachsenem Erfolg: Trotz ausdauernder Briefe an die Nachbarschaft dröhnen die Geräte weiterhin durch die Gärten.
Dagmar Reemtsma: „Dann schreibe ich noch einen Brief!“
„Und was machst du, wenn sie nächsten Herbst wieder anfangen?“ fragt Neubauer irritiert. „Dann schreibe ich noch einen Brief“, antwortet die Großmutter resolut. Steter Tropfen höhlt den Stein. Und auch wenn eine global denkende Aktivistin wie Neubauer die Laubbläser nicht wirklich als drängendstes Thema in der Klimakatastrophe sehen mag: „Da ist ein Problem, und man fängt im Kleinen an, dieses Problem zu lösen“, meint Moderator Büchsenmann, „der Blick in den Nachbargarten ist dieses Kleine“.
Außerdem beschränkt sich Reemtsmas Aktivismus nicht auf den Blick in den Garten gegenüber. Immer wieder schreibt sie wütende Briefe an Zeitungsredaktionen, zum Beispiel, weil diese das Zuschütten des Mühlenberger Lochs für die Erweiterung der Airbus-Produktionsflächen nicht kritisch genug kommentiert hätten, an die „Welt“, an den „Spiegel“, auch ans „Hamburger Abendblatt“.
Die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ hatte das daraufhin abfällig kommentiert, dass der Widerstand gegen die Airbus-Erweiterung vor allem aus den begüterten Schichten Hamburgs kommen würde, was gleich einen weiteren bösen Brief zur Folge hatte: Reemtsma legte Wert auf die Feststellung, dass sie zwar in den Elbvororten leben würde, aber nicht etwa mit unverbautem Flussblick.
Man bewegt sich in einem großbürgerlichen Umfeld
Wobei das den Abend zu seinem zentralen Thema führte: zu Privilegien. Man muss sich Aktivismus leisten können, ebenso wie auch die Ignoranz gegenüber Themen wie der Klimakrise eine Frage der Privilegien ist. Und auch wenn Dagmar Reemtsma nicht direkt auf die Elbe schauen kann: Man bewegt sich hier durchaus in einem großbürgerlichen familiären Umfeld.
Insbesondere der Reichtum der Familie Reemtsma wurde nicht zuletzt durch Verbindungen in das nationalsozialistische Regime erwirtschaftet. Allerdings, sowohl Reemtsma als auch Neubauer reflektieren diese Privilegien, stellen die Widersprüche zwischen ihren Leben und ihren Idealen heraus, auch die Verflechtung in die NS-Diktatur wird angesprochen.
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Dieser Umgang mit Widersprüchen macht „Gegen die Ohnmacht“ interessant, als Buch, das nicht nur altbekannten Aktivismus wiederkäut, sondern schillert. Wenn Neubauer beschreibt, wie sie sich selbst entgegen ihren Idealen verhält, dann geht es um einen Menschen, nicht um die Lichtgestalt, als die sie medial immer wieder inszeniert wird, eine junge, hübsche, intelligente und eloquente Frau, die einem die Hoffnung auf eine politisch aktive Jugend wiedergeben soll.
Am Schluss geben sich Neubauer und Reemtsma High Five
Das Motiv der Privilegien sowie ihrer selbstkritischen Hinterfragung prägt den Abend bis zum Schluss. Neubauer blickt in die Zuschauerreihen, sieht dort coole, hübsche, junge Menschen, die ihr aufmerksam zuhören und meint spitz: „Auch hier im Publikum sitzen sehr viele privilegierte Menschen.“
Und wie ihre Großmutter Luisa Neubauer daraufhin lachend High Five gibt, das zeigt, wie gut hier zwei so intelligente wie humorvolle Frauen auf einer Wellenlänge agieren.