Hamburg. Der französische Schriftsteller war von seinem eigenen Leben „erst beeindruckt, dann genervt, dann angewidert“. Über seine Biografie.
Die Silhouette ist schmal wie immer. Édouard Louis gibt im Schauspielhaus anlässlich des Harbour Front Literaturfestivals bei einer Lesung aus seinem neuen Roman „Anleitung, ein Anderer zu werden“ (trotz eines frisch operierten Beins) ganz den Posterboy der aktuellen soziologischen Debatten über die Frage: Wie emanzipiere ich mich aus Erniedrigung und Entwürdigung der Arbeiterschicht.
Louis hat darauf zunächst eine Antwort: seine eigene Biografie. Der Sohn einer Arbeiterfamilie aus dem Norden Frankreichs wuchs in bitterster Armut auf, Geschwister und Verwandte krank von der Fabrikarbeit, im Gefängnis oder früh gestorben. In mehreren Büchern hat sich Louis an seinem gewalttätigen Vater sowie der eigenen Mutter abgearbeitet, die Ausweglosigkeit der Verhältnisse von Generation zu Generation beschrieben.
Édouard Louis arbeitete in einem Theater
Mit warmer Stimme trägt Ensemblemitglied Eva Mattes nun eine Passage aus dem autobiografisch gefärbten Roman vor, in der Louis davon erzählt, dass er mit 21 Jahren schon zu viel erlebt hatte. Die Armut, den Rassismus, die Homophobie unter jenen, die selbst zu den sozial Abgehängten zählen. Um den Verhältnissen zu entkommen, arbeitete Louis unter anderem als Kartenabreißer im Theater – und auch als Prostituierter. Dass ihm der Sprung aufs Gymnasium und später auf die Universität gelang, wo er Soziologie und Philosophie studierte, bezeichnet er als „Wunder“. Vom Prekariat der Unterschicht führte ihn sein Weg bis ins großbürgerliche Paris, wo er Umgang mit Menschen pflegte, deren Wohnzimmer Picasso-Gemälde zierten. Echte.
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Viel wichtiger als diese Erfahrungen ist aber der Emanzipationsprozess. Louis ändert Frisur und Habitus, nimmt einen neuen Namen an, mit der Herkunftsfamilie findet er bald keine gemeinsame Sprache mehr. Er schreibt mehrere Bücher vor dem 25. Lebensjahr, wird zum gefragten Universitätsdozenten und bleibt am Ende doch viel allein: „Ich war von diesem neuen Leben erst beeindruckt, dann genervt, dann angewidert.“
Édouard Louis ist bei sich angekommen
HAW-Professorin Hanna Klimpe nimmt als Moderatorin des Gesprächs eine lohnende soziologische Tiefenbohrung vor. Es geht auch Edouard Louis um eine Analyse der Klassenunterschiede, in der Bildungsungleichheit – auch ein elitäres Kulturleben – zu immer neuer Zementierung der Verhältnisse führt. Der hochinteressante Abend offenbart einen Autor, der bei sich angekommen scheint, den aber seine Vergangenheit auf schmerzliche Weise nicht loslässt.