Hamburg. Im Thalia Gaußstraße ging es zwischen Abdulrazak Gurnah und Carsten Brosda um die Frage, ob Geschichte jemals abgeschlossen sein kann.

Moderator Jan Ehlert sah das schon richtig: Es ist bemerkenswert, wenn ein Nobelpreisträger einem Lokalpolitiker attestiert, „mutig“ zu sein. Carsten Brosda konnte also stolz sein: Abdulrazak Gurnah, Literaturnobelpreisträger von 2021, hatte dem Hamburger Kultursenator bei einer Diskussion am Montag im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals im Thalia an der Gaußstraße, solchen Mut attestiert, wegen seiner klaren Haltung in Bezug auf die Verantwortung Deutschlands als ehemalige Kolonialmacht in Afrika.

Gurnah, geboren 1948 auf der heute zu Tansania gehörenden Insel Sansibar, lebt in Großbritannien, obwohl seine Muttersprache Swahili ist, schreibt er auf Englisch. In Deutschland war er bis 2021 weitgehend unbekannt: Als der Nobelpreis verkündet wurde, waren seine Bücher in deutscher Übersetzung nur antiquarisch zu bekommen.

Harbour Front Festival: Diskussion zwischen Gurnah und Brosda

Das hat sich geändert: Natürlich ist das 2020 erschienene „Afterlife“ erhältlich, von Eva Bonné vorlagengetreu als „Nachleben“ übersetzt. Thalia-Schauspielerin Christiane von Poelnitz las an der Gaußstraße aus diesem Werk, das die sozialen Beziehungen in einer Provinzstadt des damaligen Deutsch-Ostafrika beschreibt, ein reich ausgeschmücktes Gesellschaftspanorama.

Aber das Zentrum des Abends war nicht die Lesung, das Zentrum war die Diskussion zwischen Autor Gurnah und Senator Brosda. Zwar betonte Moderator Ehlert, dass der Kolonialismus nur eines von vielen Themen sei, die der Nobelpreisträger in seinen Büchern verarbeitete, dennoch prägte dieses Thema das Gespräch – natürlich, der jüngste Roman spielt ja vor kolonialem Hintergrund, und Brosda ist zudem ausgewiesener Spezialist auf diesem Gebiet. Sofern es solche Spezialisten in der deutschen Politik überhaupt gibt: Der Verantwortung für diese historische Periode stellt man sich hier erst seit kurzem, 2014 war Hamburg die erste deutsche Stadt, die sich der Aufarbeitung kolonialer Verbrechen widmete.

Gurnah durch die Sprachbarriere immer wieder ausgeschlossen

Gurnah erwies sich dabei als freundlicher, älterer Herr, der freilich durch die Sprachbarriere immer wieder aus der direkten Diskussion ausgeschlossen wurde. Zwar diskutierte der Senator in fließendem Englisch, aber Moderator Ehlert übersetzte die Passagen dann zurück ins Deutsche, während Gurnah lächelnd daneben saß und anscheinend kaum ein Wort verstand. So entstand eine eigenartige Verzögerung im Gesprächsverlauf, ein Problem, das sich nicht wirklich befriedigend lösen lässt, höchstens durch eine Simultanübersetzung. Aber: So etwas wäre auch nur eine Hilfskonstruktion.

Die zudem Ungenauigkeiten provozieren dürfte, gerade bei einem Autor, der solch großen Wert auf genaue Sprache legt wie Gurnah. „Es ist nie vorbei, niemals!“, ein Zitat aus „Donnernde Stille“ („Admiring Silence“, 1996), identifizierte Ehlert als historischen Leitspruch des Nobelpreisträgers, „It’s never over, never!“ Aber Gurnah betonte, dass das Zitat falsch wiedergebenen wurde, es laute „It’s never over ever!“ Eine sprachliche Kleinigkeit, aber sie war wichtig für ihn. Die britische Höflichkeit, mit der der Moderator korrigiert wurde, sagte einerseits etwas darüber aus, was für ein sympathischer Gesprächspartner Gurnah ist, sie zeigte aber auch, wie wichtig die Unterscheidung zwischen „never“ und „ever“ hier ist.

Ist der Kolonialismus irgendwann vorbei?

Das Zitat jedenfalls führte zu einer grundsätzlichen Frage über Gurnahs Literatur: Ist Geschichte irgendwann abgeschlossen, ist der Kolonialismus irgendwann vorbei? „Die gesamte Geschichte des Kolonialismus ist gefüllt mit Lügen, die uns den Umgang mit ihr erleichtern“, erläuterte Brosda – und solange diese Lügen existieren, ist die Geschichte noch lange nicht vorbei. Immerhin, in Hamburg wird aufgearbeitet, nach und nach würden die aus dem heutigen Nigeria gestohlenen, sogenannten Benin-Bronzen aus der Hansestadt nach Afrika zurückgegeben. Aber das solle man nicht überbewerten, so Brosda: „Wenn man etwas gestohlen hat, dann gibt man es zurück. Da steckt gar nichts Moralisches dahinter.“

Klar war ziemlich schnell: Es geht hier nicht um einen Schlussstrich, nicht um das Ende des Kolonialismus, das durch Restitutionen und Aufarbeitung eingeleitet wird. Brosda: „Restitutionen sind ein Symbol für etwas, das beginnt, nicht für etwas, das endet.“ Und hier kam Gurnah ins Spiel, der Schriftsteller und Künstler, der mit seiner Literatur den Austausch zwischen den Kulturen unterstützen kann. „Es ist eine brillante Idee, den Austausch zu ermöglichen!“ Nicht nur mutig, auch brillant – der Kulturpolitiker konnte sich wirklich nicht beschweren über zu wenig Lob an diesem Abend.

Harbour Front Festival: Austausch für Gurnahs Werk zentral

Austausch ist ohnehin ein zentraler Begriff in Gurnahs Werk. Einerseits durch seine Biografie: Sansibar wird meist als Teil Ostafrikas gesehen, für den Autor liegt es aber an der Westküste des Indischen Ozeans, ist also Teil von Migrations- und Handelsrouten, die Austausch ermöglichen. Und zweitens durch seine Protagonisten. Die sind nämlich oft Händler, Menschen, deren Profession darin besteht, Austausch herzustellen.

„Handel war lange Zeit die einzige Möglichkeit, Ausländer kennenzulernen“, betonte Brosda. Mag sein, dass der Begriff des Ausländers in Zeiten ein einer globalisierten Welt ohnehin überholt ist – die Literatur allerdings ermöglicht solch ein Kennenlernen ebenfalls. Was das Gespräch zwischen dem im Ruhrgebiet geborenen, in Hamburg lebenden Politiker und dem auf Sansibar geborenen, in England lebenden Schriftsteller aufs Schönste verdeutlichte.