Hamburg. Der Nobelpreis für Annie Ernaux hatte den Druck auf die Inszenierung in Hamburg erhöht. Es wurde ein mitreißender Abend.
"Das Ding muss weg." Ein brutaler Satz, denn "das Ding" ist ein Embryo und das Ergebnis einer ungewollten Schwangerschaft. Es wächst im Körper einer Studentin, die um ihre Zukunft fürchtet. Diese Studentin war Annie Ernaux, die gerade den Literatur-Nobelpreis gewonnen hat. 1963 kam die damals 23 Jahre alte junge Frau in diese Notsituation, Abtreibungen waren damals in Frankreich strikt verboten. In "Das Ereignis", im Jahr 2000 veröffentlicht, erinnert die Autorin sich an diese für sie traumatische Zeit.
"Das Ereignis" von Annie Ernaux am Schauspielhaus
Im kleinen Rangfoyer des Deutschen Schauspielhauses hat die Theateradaption der autofiktionalen Erzählung jetzt Premiere gefeiert. Was als kleine Produktion der jungen Regisseurin Annalisa Engheben, seit 2020 Regieassistentin am Schauspielhaus, geplant war, hat durch den Nobelpreis eine enorme Aufmerksamkeit nach sich gezogen und den Druck auf Produktion und die drei Schauspielerinnen noch erhöht. Selbst ein Kamerateam der "Tagesthemen" kam zur deutschen Erstaufführung.
Zwei Monate lang haben Engheben und ihre Dramaturgin Finnja Denkewitz an der Textfassung gearbeitet. Engheben brachte bereits während ihrer Zeit als Assistentin am Schauspiel Stuttgart eine szenische Lesung von Ernaux' "Erinnerung eines Mädchens" auf die Bühne. Im "Ereignis" zeichnet sie den Leidensweg der immer verzweifelter werdenden Protagonistin nach und verteilt den Text auf die Schauspielerinnen Sasha Rau, Sandra Gerling und Josefine Israel.
Sie findet keinen Arzt für eine Abtreibung
In der Mitte des Rangfoyers steht ein überdimensionaler Torso aus Armen und Beinen (Bühne: Sanghwa Park). Die nur 35 Zuschauer sitzen im Kreis um die Spielfläche. Sandra Gerling liegt unter diesem Torso wie in einer Höhle, als Annie macht sie sich Sorgen um das Ausbleiben ihrer Periode. Sie erinnert sich an eine Theateraufführung von Jean-Paul Sartre, die sie gerade gesehen hat. Ihr Leben in der Universitätsstadt Rouen wäre großartig, wenn da nicht die Realität in ihrem Unterleib wäre.
Wenn die Schauspielerinnen um den Torso laufen und Fangen spielen, ist das noch Ausdruck ihrer Unbefangenheit. Doch mit jedem Tag ohne "einen Fleck in der Unterhose" nimmt der Druck zu. Die Studentin will das Kind nicht, doch sie findet keinen Arzt für eine Abtreibung. Die zunehmende Unsicherheit zeigt Josefine Israel, wenn sie zitternd und wackelnd auf dem Torso herumklettert und über Methoden einer Abtreibung nachdenkt: Stecknadeln, Einlauf mit Seifenlauge, Reiten, Engelmacherin.
Darstellerinnen glänzen durch nuancierte Sprache
Klug hat Annalisa Engheben die Textpassagen zwischen den Schauspielerinnen aufgeteilt und schafft so eine spannende Dynamik. Auch das Hin- und Her zwischen Ernauxs Reflexionen über die Bedeutung des Erinnerns und den nachgespielten Ereignissen von 1963 verdeutlicht den Umgang der Nobelpreisträgerin mit ihrer Vergangenheit.
Sandra Gerling hat den aggressivsten Ton in diesem Trio. Sie verkörpert auch männliche Rollen wie einen besonders angewiderten Arzt und einen übergriffigen und machohaften Kommilitonen. Sasha Rau benutzt eine sanftere Sprache für den zunehmend härter werdenden Text. Josefine Israel lotet die Verzweiflung der Schwangeren tief aus.
Wenn sie schreit, als die Nadeln in ihre Gebärmutter eindringen, macht sie den Schmerz für jeden im Raum fühlbar. Stark ist auch eine Szene, in der sie im Wechsel gebeugt die Engelmacherin und mit gerader Haltung die Studentin Annie spielt. Alle drei Schauspielerinnen glänzen durch ihre nuancierte Sprache. Jede Gefühlsregung wird anschaulich und noch verstärkt durch die unmittelbare Nähe zu den Zuschauern.
Klassenherkunft, Armut und Schwangerschaft
Ein wichtiges Thema im "Ereignis" ist Ernaux' Herkunft. Sie ist in einfachen Verhältnissen in der Provinz aufgewachsen und die erste aus ihrer Familie, die ein Gymnasium und eine Universität besucht. Ein uneheliches Kind würde das Ende ihrer Ambitionen bedeuten. Sie stellt eine Verbindung zwischen Klassenherkunft, Armut und Schwangerschaft her. "Im Sex hatte mich meine Herkunft eingeholt, und was da in mir heranwuchs, war gewissermaßen das Scheitern meines sozialen Aufstiegs", schreibt sie.
Kostümbildnerin Teresa Heiß hat diese prekäre Herkunft in die Kleidung der Schauspielerinnen übersetzt: Sandra Gerling trägt einen taubenblauen Trainingsanzug, der heute für Proll-Attitüde steht, Sasha Rau eine kurze unschicke Hose aus rauer Wolle und Josefine Israel ein schlecht sitzendes braunes Outfit. Auch die klobigen Plastikstiefel aller drei unterstreichen die Armut.
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Die Handlung spitzt sich immer mehr zu bis hin zu der Reise nach Paris zu der Engelmacherin, dem zweimaligen Eingriff in die Gebärmutter und dem folgenden Abgang des zwölf Wochen alten Fötus. Diese manipulierte Fehlgeburt wird in ihrer Drastik detailliert beschrieben und unterstreicht das traumatische Erlebnis. "Ich war ein Tier", sagt sie.
Bevor der Beifall für diese stark gespielte und inszenierte Roman-Adaption einsetzt, vergehen einige Momente. Zu gebannt und zu schockiert ist das Publikum von dieser mitreißenden Darstellung einer Frau im Ausnahmezustand.
„Das Ereignis“, Deutsches Schauspielhaus, Rangfoyer, die nächsten Vorstellungen: 17., 18., 20., 24. 10., 14. und 27.11. ; Karten unter T. 248-713, schauspielhaus.de