Stockholm/Hamburg. Annie Ernaux galt als Favoritin. Über eine Frau, die intime Beschreibungen nicht scheut und dabei auch gegen Männer anschrieb.

Sieht man mal davon ab, dass die prominenteste Literaturjury der Welt, die seit Jahrzehnten für ihre tatsächlich unabhängigen, im Grunde nie vorhersagbaren Entscheidungen bekannt ist, immer überrascht, ist diese Entscheidung keinerlei Sensation: Die Französin Annie Ernaux erhält den Literaturnobelpreis 2022. Das gab die Schwedische Akademie am Donnerstag bekannt.

Eine unbedingt begrüßenswerte Entscheidung. Das muss man gerade auch dann so empfinden, wenn man von dem seit einiger Zeit virulenten Begriff „Autofiktion“ etwas genervt ist. An der eigenen Biografie entlang Romane zu schreiben, ist keine ganz neue Erfindung. Aber das Modewort dafür ist untrennbar mit der 1940 in Lillebonne geborenen Annie Ernaux verbunden. Sie ist: die Godmother der Autofiktion. Mindestens. Ihren ersten, autobiografischen Roman „Les armoires vides“ veröffentlichte Ernaux 1974; zur viel gelesenen Autorin wurde sie in ihrem Heimatland 2008, als das Buch ihres Lebens erschien, „Les Années“. Es begründete ihren Ruhm als nüchterne, kühle, distanzierte Porträtistin der eigenen Person.

Literaturnobelpreis für Annie Ernaux: Interesse am Soziologischen

In Deutschland wurde sie erst mit gehöriger Verzögerung in den vergangenen Jahren entdeckt. Die Übersetzung von „Les Années“ („Die Jahre“) erschien 2017 bei Suhrkamp, danach legte der Verlag etliche der oft kurzen, konzentrierten Bücher nach, die Ernaux in den vergangenen 30 Jahren veröffentlicht hat. Vorher war ihr Werk hierzulande kursorisch und eher unbeachtet erschienen.

Bei der Neu- und Wiederentdeckung Ernaux’ half der besonders deutsche Hype um die soziologisch interessierten französischen Autoren Édouard Louis („Das Ende von Eddy“) und Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“). Ernaux’ spezielle Herangehensweise – in „Die Jahre“ verzichtet sie durchgehend auf das Personalpronomen „Ich“, wenn sie mit ihrer Hauptperson, einem 1940 geborenen Mädchen, das zur Frau wird, das 20. Jahrhundert durchlebt – bezog sich immer auf eine größere Einheit als das Individuum. Sie beschrieb kollektive Erfahrungshorizonte einer Generation.

Blick auf Ehe, Sexualität, Familie

So blickte sie auf Ehe, Sexualität und die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Und sie nahm sich ihre Herkunftswelt vor, die Welt der Arbeiter und „einfachen Menschen“ – hier insbesondere fanden die Sozioliteraten Eribon und Louis Anknüpfungspunkte zum Werk der Älteren. Ihren Eltern, deren Prägungen, Wertvorstellungen und Lebenswelten widmete Ernaux je ein Buch („Eine Frau“, „Der Platz“), und implizit erzählte sie damit in ihren Büchern immer auch die Geschichte des eigenen sozialen Aufstiegs. In „Scham“ stellte sie dennoch die mentale Spur des anhaltenden Unterlegenheitsgefühls in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen.

Ernaux machte sich zur Sozialfigur, in dem sie aus zutiefst intimen Erfahrungen Literatur schuf. In „Erinnerung eines Mädchens“ sezierte sie schmerzlich die lebenslange Scham, die sie seit ihrer ersten sexuellen Erfahrung im Ferienlager begleitet. „Vergewaltigung“ nennt sie die körperliche Vereinigung mit dem älteren Betreuer nie, und deutlich wird dabei, dass sie mit ihren Büchern, die auf das allgemein Weibliche zielten, die Deutungshoheit über das eigene Leben behalten wollte.

Im vergangenen Jahr erschien auf Deutsch „Das Ereignis“. Zurück im Jahr 1963, nähert Ernaux sich in ihrer typisch minimalistischen Sprache einem Wendepunkt ihres Lebens: wie sie sich als unverheiratete 23-Jährige für eine Abtreibung entschied. Um ihre akademische Karriere und die Abwendung von der deklassierten Herkunftswelt nicht zu gefährden.

Annie Ernaux: Die Stricknadel in der Scheide

Abtreibung ist in jener Zeit illegal, ihr Weg ans Ziel einsam und gefährlich. Und „Das Ereignis“ deshalb das erschütternde Zeugnis einer gesellschaftlichen Ordnung, die noch gar nicht lange überwunden ist. Ernaux will den Leserinnen und Lesern die Szene nicht ersparen, in der sich ihr früheres Ich eine Stricknadel in die Scheide einführt. Ihr nachfolgender Kommentar möge als Summe ihres literarischen Programms dienen: „Vielleicht wirkt diese Beschreibung irritierend oder abstoßend, oder sie mag als geschmacklos empfunden werden. Es erlebt zu haben, egal, was es ist, verleiht einem das unveräußerliche Recht, darüber zu schreiben. Es gibt keine minderwertige Wahrheit. Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern, und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt.“

Verfilmt wurde die Geschichte der jungen Frau, für die eine zu frühe Mutterschaft nicht in Frage kommt, von Audrey Diwan. Im vergangenen Jahr erhielt er für diesen Film den Goldenen Löwen des Filmfestivals von Venedig. Der mit 920.000 Euro dotierte Literaturnobelpreis wird am 10. Dezember in Stockholm verliehen und ist die Krönung von Annie Ernaux’ Schriftstellerinnenleben, das in den vergangenen Jahren international richtig Fahrt aufgenommen hat. In ihrer Heimat Frankreich zählt sie seit langem zu den wichtigsten Schriftstellerinnen und Schriftstellern.

Die radikale Selbstbetrachtung, die Annie Ernaux – sie bezeichnet sich als „Ethnologin ihrer selbst“ – stets in allgemeinere Zusammenhänge stellt, macht sie zu einer Chronistin des Lebens in westlichen Gesellschaften. Ihr entschiedener Feminismus und ihr radikales Schreiben sind nun auch in Hamburg angekommen: Am 14.10. hat die Bühnenfassung von „Das Ereignis“ am Deutschen Schauspielhaus Premiere.