Das Abtreibungsdrama „Das Ereignis“ gewann in Venedig den Goldenen Löwen. Jetzt ist es auch in Hamburger Kinos zu sehen.
Es hat in den vergangenen Jahren viele Versuche gegeben, sich dem existenziellen Thema der Abtreibung filmisch zu widmen. Aus deutscher Sicht zählt zweifellos Anne Zohra Berracheds „24 Wochen“ (2016) dazu, der zu Recht mehrfach mit Preisen bedacht wurde. Eliza Hittmans in den USA spielender Film „Niemals selten manchmal immer“ zählte zu den meistgelobten Produktionen der Berlinale 2020, und 2021 legte der aus dem Tschad stammende Regisseur Mahamat-Saleh Haroun mit „Lingui“ eine eindrucksvolle Arbeit über einen Schwangerschaftsabbruch in seinem Heimatland vor.
All diese Filme verbindet nicht nur, dass sie sich einem noch immer tabuisierten, in vielen Ländern der Erde von Strafe bedrohten Akt der weiblichen Selbstbestimmung widmen. Sie spielen auch in der Gegenwart. Das macht – neben Phyllis Nagys „Call Jane“, der im Februar im Wettbewerb der Berlinale zu sehen war – Audrey Diwans „Das Ereignis“ auch in einem sozialhistorischen Sinn interessant. In den USA, in Frankreich, übrigens auch in beiden Teilen Deutschlands waren Abtreibungen in den 1960er-Jahren gesetzlich verboten, und was das für ungewollt schwangere Frauen bedeutete, hat niemand so eindringlich beschrieben wie die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, auf deren Memoir „Das Ereignis“ (2000) Audrey Diwans Film beruht.
Die Ärzte sind gleichgültig oder Abtreibungsgegner
Anne Duchesne (Anamaria Vartolomei) ist dabei, die Grenzen ihres Herkunftsmilieus zu überschreiten: Ihre Eltern betreiben eine Gastwirtschaft, sie hat sich, durchaus Erfolg versprechend, für ein Studium der Literatur entschieden. Wir sehen zunächst den Alltag einer lebensfreudigen 23-Jährigen, der tagsüber aus vielen Büchern und Vorlesungen, abends und nachts aus Partys besteht – spielerische Flirts mit den Jungs aus dem benachbarten Studentenwohnheim inklusive.
Das alles endet abrupt, als Anne von ihrer Schwangerschaft erfährt. Sie kann sich schon vorstellen, einmal ein Kind zu haben, aber nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Mit dem Vater verbindet sie eine bestenfalls lose zu nennende Fernbeziehung, er zeigt sich zudem an ihrem Problem grundsätzlich desinteressiert. Anne weiß, was es bedeutet, im Frankreich des Jahres 1963 alleinerziehend zu sein – die drohende soziale Ächtung bekommt sie ja jetzt schon ausreichend zu spüren. Beim Duschen mit Kommilitoninnen fühlt sie unbarmherzig kontrollierende Blicke auf ihrem Körper. Und die Ärzte, die sie konsultiert, zeigen sich gleichgültig oder entpuppen sich ihrerseits als Abtreibungsgegner: Einer von ihnen verschreibt ihr ein angeblich den Abbruch förderndes Medikament, das sich im Nachhinein als Präparat zur Stärkung des Fötus entpuppt.
Einsamkeit mit bedrückender Intensität gespielt
Die Einsamkeit, in der sich Anne wiederfindet, spielt Anamaria Vartolomei mit bedrückender Intensität. Nicht einmal ihre Freundinnen erweisen sich in ihrer Lage als Stütze. Die farbschwachen, schattenreichen Bilder tragen nicht nur dezent historische Patina auf, sie beglaubigen auch die seelischen Torturen der Protagonistin. Mit Einblendungen macht Diwan die unaufhaltsam voranrückenden Schwangerschaftswochen nachvollziehbar. „Das Ereignis“ erhält dadurch Züge eines Thrillers, der auf ein furchtbares Finale hinausläuft.
Denn natürlich muss Anne ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Nachdem schmerzhafte Versuche mit langen Stricknadeln gescheitert sind, entscheidet sie sich für den Besuch bei einer „Engelmacherin“, die den Eingriff im Ambiente einer heruntergekommenen Hinterhofwohnung und mit laienmedizinischer Expertise an ihr vornimmt. Ein erster Versuch scheitert, ein zweiter bringt Anne ins Krankenhaus, wo sie knapp überlebt.
Harter Realismus ins Bild gesetzt
Das alles ist im selben harten Realismus ins Bild gesetzt, mit dem auch Annie Ernaux ihre Erfahrungen zu Papier brachte. Es geht nicht um einen Gestus der Anklage – die Männer werden hier nicht als bösartig, sondern nur als wirklichkeitsnah teilnahmslos porträtiert. Es geht um die Vermittlung einer Erfahrung.
Und weil diese Erfahrung auch drastische Bilder kennt, erspart die Regisseurin dem Publikum auch nicht den Anblick des abgetriebenen Kindes kurz nach dem Abort, die kleine, aus Anne heraushängende „Babypuppe“, wie es bei Ernaux heißt: „Ich hatte keine Vorstellung davon gehabt, dass ich so etwas in mir trug. Ich musste damit bis zu meinem Zimmer laufen. Ich nahm es in die Hand – es war seltsam schwer – und überquerte den Flur, indem ich es zwischen meinen Schenkeln hielt. Ich war ein Tier.“
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Die Regisseurin selbst hat hier von einer „Hardcore-Szene“ gesprochen, und sie ist in der Tat verstörend. Aber sie fügt sich überzeugend in die Haltung eines Films, der nichts beschönigen oder abmildern möchte. Was Anne Duchesne und ungezählte weitere Frauen aufgrund geltender Gesetze in einigen Staaten bis zum heutigen Tag ertragen müssen, bedarf der realistischen Repräsentation. Was Phyllis Nagy in „Call Jane“ noch durch die Wärmedecke weiblicher Solidarität erträglich machen will, stürzt hier ungefiltert von der Leinwand und verfehlt seine Wirkung nicht. Das macht „Das Ereignis“ zu einem großen, radikalen, wichtigen Film.
„Das Ereignis“ 100 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Abaton, Studio, Zeise