Hamburg. Viel war im Vorfeld spekuliert worden, ob eine Übersetzung der fast 50 gerappten Songs funktionieren würde. Die Antwort: Oh ja!
Wow, was für ein Ereignis! Das geschieht einem nicht alle Tage, dermaßen aufgeladen aus einem Theater zu kommen. Überfordert und geplättet, inspiriert und elektrisiert. Eine Show, die sich mit einem Satz zusammenfassen lässt: keine Atempause, Geschichte wird gemacht.
Nach jahrelanger Vorbereitung hat „Hamilton“, das Broadway-Musical der Superlative, nun im Hamburger Operettenhaus seine umjubelte Premiere gefeiert. Die Skepsis war riesengroß. Funktioniert die deutschsprachige Übersetzung? Antwort: oh ja.
Hamilton: Die fast 50 Songs sind geradezu unverschämt eingängig
Es ist ein tolles Wagnis, dieses wortgewaltige Rap- und Singspiel mit seinen fast 50 Songs für das hiesige Publikum zu erschließen. Immerhin geht es um den amerikanischen Gründervater Alexander Hamilton und die rund 30 Jahre seiner Laufbahn. Viel Zoff, viel Stoff. Aber wie sagte der ehemalige US-Präsident und Hamilton-Fan Barack Obama noch: „Am Anfang haben wir über diese Idee gelacht. Aber wer lacht jetzt?“ Das ist ja das Schöne an Kunst und Popkultur. Sie kann aus Jesus Christus einen Superstar machen. Und aus dem ersten Finanzminister der USA ein Phänomen, das die Musical-Welt revolutioniert.
Die gut zweieinhalbstündige Show wird eröffnet von Hamiltons Gegenspieler Aaron Burr zu Streichern und gescratchtem Sound. Er erzählt, wie sein Kontrahent „aus ’nem gottverdammten verlorenen Loch in der Karibik“ kroch – „ohne Mittel, ohne Titel, ohne Werte / am Ende doch ein Held und ein Gelehrter“. Und dann betritt er die Bühne und stellt sich singend vor: „Alexander Hamilton“. Szenenapplaus und Jubel branden auf. Und an dieser Stelle sei bereits – im positiven Sinne – gewarnt: Die fast schon unverschämte Eingängigkeit der Songs geht im Kopf später gerne mal auf Rotation. So entsteht eine Art persönlicher Hamilton-Remix. Inklusive Überhit und Leitmotiv: „Ich hab nur diesen einen Schuss“.
Ivy Quainoo spielt Hamiltons Ehefrau Eliza
Der gebürtige Brasilianer Benet Monteiro spielt diesen Hamilton in großer Bandbreite von gewitzt bis gebrochen. Doch – allein von der Anlage der Figur her – wird er ein ums andere Mal von der virilen Präsenz des Aaron Burr übertroffen. Der etablierte Musicaldarsteller Gino Emnes verkörpert höchst glaubhaft, was – Hand auf Herz – viele denken: So ein Alleskönner wie Hamilton kann auch ganz schön nerven. Und das ist nur eine der vielen Ebenen, wo das Stück immer wieder vom konkret Politischen ins Universelle und Menschliche dreht.
- Hamilton – „Das Stück teilt die Ideale der Obama-Regierung“
- Teodor Currentzis – Bravorufe schon vor Konzertbeginn
- Plácido Domingo – große Begeisterung mit viel Tontechnik
Mit den Schuyler-Schwestern treten drei starke Frauenfiguren auf den Plan. Die Amerikanerin Chasity Crisp füllt mit viel Wahrhaftigkeit und Stimmgewalt von Rap bis R&B die Rolle der Angelica Schuyler aus. Jene Schwester, die ihre Liebe zu Hamilton verbirgt und fortan als versierte Briefeschreiberin im Hintergrund agiert. Ihre Schwester Eliza, hoch emotional und empathisch dargestellt von der Sängerin und Schauspielerin Ivy Quainoo, wird Hamiltons Ehefrau – mit allen Höhen und Tragödien. Und mit einem Mann, der stets ins Außen strebt. In die Schlacht, in die Debatten, in eine Affäre, schließlich ins todbringende Duell.
"Läuft!" nicht nur bei den Schuyler-Schwestern
Die Nummer der Schuyler-Schwestern mit dem markant platzierten „Läuft!“ ist eines von vielen Highlights. Manhattan brodelt, die Bühne brennt. Und Burr baggert die Ladys an mit dem hübschen Zitat aus Sabrina Setlurs „Ja klar“: „Babe, ich möcht’ dein Badewasser saufen.“ Lacher garantiert. Fast hätte man sich noch mehr Deutschrap-Anleihen wie diese gewünscht. Afrobs „Reimemonster“ klingt an. Und „Jein“ von Fettes Brot. Andererseits ist da eine große Erleichterung, dass die wirklich brillante Übersetzung auf einfache Plattitüden im Stile von „Alder, Digger, derbe“ verzichtet. Sprich: Es gibt kein verbales Rangewanze an Jugendsprache. Und wenn, dann als Stilmittel – als Hamiltons Sohn Philip etwa extra-„fresh“ seine ersten Sprechgesangsversuche wagt (mit jungshaftem Charme: Oliver Edward).
Die beiden Übersetzer Kevin Schroeder und Sera Finale haben wirklich ein Glanzstück hingelegt. Da reimt sich dann auch mal „duschen“ auf „constitution“ – und das macht einfach Spaß. Das wunderbar divers besetzte Ensemble wiederum verleiht den rund 25.000 deutschen Wörtern dieses Musicals einen immensen Flow. Eine irrsinnige Leistung.
Viel Zoff, viel Stoff: besser vorher die Geschichtskenntnisse auffrischen
Und: Ja, mitunter wird da so schnell gerappt, dass die Verständlichkeit auf der Strecke bleibt. Da ist definitiv Luft nach oben. Aber das wird durch den energetischen Sog des Ganzen wettgemacht. Vor allem im ersten Teil.
In der Abfolge bleibt der Hamburger Hamilton dem Broadway-Original treu. Und gerade für die zweite Hälfte sollte man vielleicht vorab doch noch einmal kurz seine Geschichtskenntnisse auffrischen, um den politischen Ränkespielen nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg besser folgen zu können. Wie gesagt: viel Zoff, viel Stoff.
Hamilton zeigt, welch hohes Niveau das Genre Musical erreichen kann
„Hamilton“ ist eine unbedingte Empfehlung an alle, die eine Geschichte rund um Freiheitsliebe und die damit verbundenen Konflikte erleben wollen. Und die sehen möchten, auf welch hohem Niveau sich das Genre Musical weiterentwickelt hat. Bis hin zum voluminösen Harmoniegesang des Chorus. Bis hin zum perfekt akzentuierten Tanz in angenehm reduzierter Kulisse. Und bis hin zu den weiteren Figuren.
Da ist zum Beispiel Charles Simmons, der seinen George Washington wie eine Naturgewalt zwischen Hip-Hop und Soul entlädt. Da ist der Hamburger Rapper Redchild in einer Doppelrolle als Mulligan und Madison, schlichtweg eine coole Type mit markanter Reibeisenstimme. Und da ist Jan Kersjes als King George, dem man auf der Stelle einen Thron zimmern möchte, wäre er nicht schon König, so grandios grimassierend gibt er zum beatlesken Britpopsound den Monarchen. Er ist die Ironie der Geschichte. Und er wird sich später echauffieren, dass da die Machthaber jetzt einfach immer ausgetauscht werden. Tja, das ist Demokratie, langweilig wird sie nie.
„Hamilton“ täglich außer montags, Dauer mit Pause etwa 3 Stunden,Karten zu 59,90 bis 174,90 Euro, buchbar unter stage-entertainment.de