New York/Hamburg. Deutschlandpremiere: Die US-amerikanische Erfolgsproduktion „Hamilton“ hat für den Sound der Straße auch einen Deutschen verpflichtet.

Fast 50 Songs und ungefähr 25.000 Wörter. Textlich anspielungsreich, hochtourig vorgetragen und abgestimmt auf jeden einzelnen Takt sowie auf eine komplexe Choreografie. Das US-Erfolgsmusical „Hamilton“ ins Deutsche zu übersetzen, schien vielen als unmöglich. Doch nun laufen die Previews im Hamburger Operettenhaus, am 6. Oktober feiert die erste übersetzte Fassung tatsächlich Premiere. Sehr klug und fesselnd erzählt das Broadway-Original vom Aufstieg Alexander Hamiltons zu einem der Gründerväter der USA sowie zum ersten Finanzminister des Landes.

Eine lässig erzählte wie umwerfend überfordernde gute Doppelstunde Geschichte, die allein in New York zwischen 2015 und 2020 mehr als 2,6 Millionen Menschen bejubelten, darunter Barack und Michelle Obama. Können die hiesigen Fans von Disney-Produktionen wie „König der Löwen“ und „Eiskönigin“ ebenso abgeholt werden von der deutschsprachigen Adaption wie die Deutschrap-Gemeinde und womöglich auch ein historisch interessiertes Theaterpublikum? Und hatten die beiden Übersetzer all diese verschiedenen Zielgruppen permanent im Hinterkopf bei ihrer rund dreijährigen Arbeit an dem Projekt?

Musical Hamburg: Auch Atmosphäre musste transportiert werden

Klar haben wir uns gefragt: Was funktioniert auf Deutsch. Was ist zugänglich und verständlich. Aber beim Übersetzen bin ich immer total beim Material. Und bei den Figuren. Fast wie ein Schauspieler. Wir haben den Text für Lin-Manuel Miranda, also für den Original-Autoren, geschrieben. Und für uns, damit wir das super finden“, erklärt Kevin Schroeder. Der in Berlin ansässige Übersetzer ist darauf spezialisiert, nicht nur Liedtexte und Dialoge ins Deutsche zu transportieren, sondern auch die ganz spezielle Atmosphäre eines Musicals. Also das, was zwischen den Zeilen und Versen steht. Er arbeitete an Shows wie „Aladdin“, „Ein Amerikaner in Paris“, „Tina“, „Chicago“ und „Kinky Boots“. Doch was ist mit der sogenannten Street Credibility? Mit dem Sound der Straße?

Um die energetische Coolness des US-„Hamilton“ glaubwürdig ins Deutsche zu übertragen, engagierte die verantwortliche Stage Entertainment zusätzlich den Berliner Rapper Sera Finale. „Einer ist Nitro, einer ist Glitzerin. Und dann macht’s eben peng“, beschreibt er die Kooperation mit dem Musical-Experten Schroeder. Wobei Sera Finale selbst ein versierter Crossover-Künstler ist. Unter dem Pseudonym Dikka hat er jüngst mit „Boom Schakkalakka“ seine zweite Rap-Platte für Kinder veröffentlicht. Zudem schreibt er Songs und Schlager für Stars wie Andrea Berg und Helene Fischer. Eine Offenheit, die im Miteinander zwischen Schroeder und ihm spürbar ist.

Am Ende entstand ein deutscher „Hamilton“

Die Haltung war von Anfang an, dass wir uns in einen komplett geschützten Raum begeben, in dem alles möglich ist. In dem alles sein darf“, sagt Sera Finale. Lin-Manuel Miranda sei ja schließlich ein „super-smarter Typ“. Sprich: Der „Hamilton“-Schöpfer, der in den USA längst als Superstar verehrt wird, habe dem deutschen Übersetzer-Duo genug Freiheiten gegeben, um sich diesem Sprach- und Reimemonster von einem Musical emotional zu nähern.

Statt statischem Transfer Wort für Wort durfte also ein deutscher „Hamilton“ entstehen, „den wir beide fühlen“, wie Sera Finale erklärt. Und Kevin Schroeder ergänzt: „Der Choreograf Andy Blanken­buehler hat zum Teil auf jedes einzelne Wort eine Bewegung choreografiert. Da der deutsche Satzbau ganz anders ist als im Englischen, konnten wir das Stück gar nicht eins zu eins übersetzen.“ Tanz und Gesang hätten schlichtweg nicht mehr zueinander gepasst. Daher folgte ein stetes Hin und Her, ein Umtexten und Puzzeln, ein Spielen und Ausprobieren, ein Justieren und Anverwandeln.

Schnack statt Slang

Wichtig sei, dass sich die Inhalte für das deutsche Publikum „nicht wie Fremdkörper anfühlen“, erläutert Sera Finale. Das heißt, dass beispielsweise nicht das gesamte US-amerikanische Schulwissen über sämtliche Präsidenten vorausgesetzt wird. Dass also so manches historische Namedropping heruntergebrochen wird. Und dass statt Anspielungen aus dem US-Hip-Hop auch diverse Deutschrap-Anleihen zu finden sind.

Also Schnack statt Slang. Und Sabrina Setlur neben Beyonce. Es geht um Unmittelbarkeit, um Flow, allerdings ohne die vielschichtigen und oftmals universellen Themen des Stücks zu überlagern: Loyalität, Deutungshoheit, Freundschaft, Liebe, Feminismus, Chancen ergreifen und (seine eigene) Geschichte schreiben.

Song für Song musste geknackt werden

„Die ganzen Binnenreime, die ganzen Querverweise, die ganzen Zitate – das war schon ein richtiger Spießrutenlauf“, erinnert sich Sera Finale. Wie die Eichhörnchen hätten sie Song für Song wie Nüsse geknackt. Meist stundenlang an Sera Finales Küchentisch in Berlin. Und immer wieder im engen Austausch mit Lin-Manuel Miranda. Denn letztlich geht es darum, dessen millionenschweres Franchise „Hamilton“ nach Stationen in den USA und in Puerto Rico, in Australien und England nun auch in Hamburg erfolgreich zu platzieren. Also am drittgrößten Musicalmarkt der Welt nach New York und London.

Von Anfang an versuchte Miranda, möglichst viele Details der deutschen Fassung zu verstehen. Und sei es mit familiärer Hilfe. „Als wir Lin in seinem Büro das erste Mal drei übersetzte Songs von uns vorgerappt haben, hatte er die österreichischen Cousinen seiner Frau dabei“, erzählt Sera Finale lachend. Zum Teil wurden die deutschen Versionen später dann ins Englische zurückübersetzt, um Miranda die neuen Drehungen und Wendung plausibel zu machen.

Musical Hamburg auch bei der „New York Times“ thematisiert

Auch die „New York Times“ hat sich ausführlich mit der hiesigen Adaption befasst: „Die deutsche Besetzung ist die internationalste, die jemals für eine ‘Hamilton‘-Produktion zusammengestellt wurde“, heißt es in dem Artikel. Mit Backgrounds aus 13 Ländern spiegele das Ensemble auch das Ausmaß wider, in dem Hamburg zu einem Magneten für europäische Musiktheaterkünstler geworden sei.

Für Sera Finale hat „Hamilton“ gleich auf mehreren Ebenen verbindende Kraft. Er sieht das Stück unter anderem als eine Art Trojaner, um dem Genre Hip-Hop noch mehr Akzeptanz zu verschaffen: „Rap ist die größte musikalische Bewegung weltweit. Es ist die Dichtkunst des 21. Jahrhunderts. Und die Kids hören mittlerweile viel mehr deutschen Rap. Wenn die ältere Generation, die gerne ins Musical geht, das Stück zusammen mit ihren Kids anschauen kann, dann hat das etwas Versöhnendes.“

„Hamilton“ ab 6. Oktober, Stage Operettenhaus, Spielbudenplatz 1, Tickets ab 55,90 unter www.stage-entertainment.de