Hamburg. Der 78 Jahre alte Sänger wurde in Hamburg kompromisslos gefeiert – obwohl sein Programm wenige Höhen und viele Tiefen hatte.
Schön ist es nie, wenn man epochalen Karriere-Verwaltern anhört, wie diese Künstlerinnen und Künstler wichtige, aber schmerzhafte Schlussstriche nicht ziehen mögen. Tenöre, die Strahlemänner der Klassikwelt, sind dafür besonders anfällig. Die sind innerlich immer Anfang 30, stehen laut ihrer Arbeitsplatzbeschreibung voll im Saft und nehmen am Ende gern das Mädchen als Belohnung.
Es bröckelte zuletzt 2016 derart arg, das war beim tragisch mitanzuhörenden Auftritt von José Carreras in der Laeiszhalle so und auch beim Blutsbruder Luciano Pavarotti, als der anno 2004 sein reifes Ego am Rothenbaum vorführte. Nun passierte im Großen Saal der Elbphilharmonie mit Plácido Domingo ein weiterer dieser wehmütig und wütend machenden Abende, die so tun sollen, wollen und müssen, als ob.
Plàcido Domingo – heftigst bejubelt in der Elbphilharmonie
Es war eine heftigst bejubelte Audienz bei einem Superstar, mit wenigen Höhen und einigen Tiefen, mit einem 78 Jahre alten Ausnahme-Sänger im Rampenlicht, der jahrzehntelang ein weltweit gefeierter Tenor war und nun die tiefer gelegenen, also für ihn weniger anstrengenden Bariton-Partien singt. Der dabei natürlich genau weiß, wie er sich seine Kräfte und Effekte so einteilt, dass es tunlichst nicht auffällt, wie unrichtig das inzwischen wirken kann.
Der ein Publikum mit wenigen Posen um den sprichwörtlichen Finger wickeln kann, selbst wenn es nur noch um das großväterliche Herumstehen oder das melodramatische Stirnrunzeln geht.
Charisma hat man oder man hat es nicht, das hat kein Verfallsdatum, wie manche Stimmen es durchleiden. Die großen Verdi-Meisterwerke „Troubadour“, „Macbeth“, „La Traviata“, dazu Puccinis „Tosca“ – in dieser Gewichtsklasse war Domingo jahrzehntelang einer der Tollsten. Nur eben: in den Tenor-Rollen.
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Alles Top-Opern, die an Glanz und Schmelz seiner Tenor-Zeit erinnern und die ihn auch jetzt, aber eine Etage tiefer, möglichst barrierefrei in Richtung Szenenapplaus bringen sollten. Die Atempausen füllten die obligatorische Sopranistin oder das Orchester mit beliebig dazugelosten Ouvertüren. Diese Rechnung ging weitgehend auf, denn gelernt ist gelernt, was das Singen angeht; Domingos Stimme saß anfangs so gut wie die Frisur bis zum Ende. Und sie hat ein Timbre, das faszinieren kann.
Oder er singt Operetten-Tralala von Lehár zum Mitsummen und Mitwalzern, als wäre man bei Adenauers zum Tanztee eingeladen und jeden Moment käme Anneliese Rothenberger mit Gebäck um die Ecke. Oder er singt irgendetwas mit Latin-Einschlag, weil man das bei Bunte-Teller-Konzerten so macht als von Haus aus natürlich heißblütiger Spanier.
Tenor? Bariton? Hauptsache, Domingo singt
Im operettigen zweiten Teil schwächelte dieses Konzept allerdings mehr und mehr. Bereits bei „Dein ist mein ganzes Herz“, benutzerfreundlich in einer entspannend tiefen Tonart angesetzt, war nicht mehr alles reines Gold in der Jahrhundert-Kehle. Routine klang durch.
Und kam Domingo, der nicht immer die akustisch bessere Position im hinteren Teil der Bühne aufsuchte, beim besten Willen nicht um den einen oder anderen höheren Ton herum, wie am Ende von „Tonight“ aus Bernsteins „West Side Story“, sorgte sein Stamm-Dirigent Eugene Kohn dafür, dass die Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin mit dem Lautstärke-Make-Up nicht geizte. Kann man so machen, fällt allerdings auf.
Für die rund 2000 seligen Domingo-Fans war aber von Anfang an, mittendrin und am Ende nur eines wichtig: Hauptsache, er singt. Noch Tenor? Schon Bariton? Egal, Hauptsache, Domingo. Hauptsache, man ist ihm nahe und kann ihm auf seine nicht mehr ganz jungen Tage beim gut inszenierten Domingo-Sein zuhören.
Was wiederum, bei aller Skepsis über das Gehörte, eine hinreißende, anrührende Liebeserklärung an die klassische, überlebensgroße Figur des strahlenden Tenors ist, des darling for everybody und immerdar und insbesondere für die Frauen an seiner Seite, die je nach Stück wechseln, aber immer mitsingen und mitspielen müssen.
Von Kritik an Plácido Domingo keine Spur im Großen Saal
Womit man – aus aktuellem Anlass – bei einem Thema landet, das Domingos Spät-Karriere in den letzten Monaten beträchtlich aus der Balance gebracht hat. Und auch wenn es sein erster Auftritt in der Elbphilharmonie war, war schon der Empfang vor seinem ersten gesungenen Ton für Domingo wie ein Wiedersehen mit alten Freunden: Stehende Ovationen, nur Jubel. In Hamburg, wo seine Karriere vor Jahrzehnten an der Staatsoper Fahrt aufnahm, ein ganz besonderes Heimspiel, flötete einem das Programmheft zwischen den edel inszenierten Profil-Fotos entgegen.
Weit und breit jedenfalls war kein Verhalten im Publikum zu erkennen, das man als kritische Reaktion auf die massiven Belästigungsvorwürfe hätte deuten können, die viele Sängerinnen in diesem Jahr öffentlich gemacht hatten und die Domingos Ruf als Karrierefaktor in entscheidender Machtposition schwer schädigten und schädigen.
Der aber blieb an diesem Abend, der mit vier Zugaben und noch mehr Jubel spät endete, straff und agil in der Rolle seines Künstler-Lebens: Immer nur lächeln, immer vergnügt. Bei Textzeilen wie „Lippen schweigen / ‘s flüstern Geigen / hab mich lieb!“ nicht mehr ganz so einfach wie früher.
Einige Zugaben kamen einem ziemlich spanisch vor
Mit schmachtendem Liedgut manövrierte sich Domingo ins Finale, hin zu den Zugaben mit Mikro-Verstärkung (auch nicht immer eine gute Idee). Über eine sehr eigenwillige „Bésame mucho“-Discokugel-Version hin zur Schmetter-Endstufe „Granada“, während er eine Foto-Runde über die Bühne drehte.
Bei einer der Zugaben, die einem spanisch vorkamen, half erst der gemeinsame Griff von Domingo und der Sopranistin Ana María Martínez zum Spickzettel, um wieder Text singen zu können. So waren sie dann, die letzten Momente eines Events, das rund 2000 Menschen sehr glücklich machte, mit Musik, die der Hauptdarsteller dieses Stücks bedingt singen kann. Er müsste es aber lieber nicht mehr wollen. Doch das schreibt sich so leicht.