Hamburg. Aurora Orchestra aus London gibt umjubeltes Elbphilharmonie-Debüt. So schnell wird so etwas Verrücktes dort nicht wieder passieren.

Die staunende Würdigung eines mutig kreativen Orchesters und seines Auftritts mit der Zugabe zu beginnen, ist eher ungewöhnlich, entscheidender sollte ja die Regelspielzeit sein. Doch wenn die Besonderheit nun mal dort – und das auch noch in dieser Reihenfolge – am stärksten sicht- und hörbar wird, muss man eine Geschichte auch mal von ihrem Ende her erzählen dürfen.

Also: Manege frei für das Aurora Orchestra. Zuhause in London, cooler Ruf, Nicholas Collon als lässig kumpelnder Dirigent ohne übertriebenen Autoritätsbedarf. Eines dieser Aus-denen-wird-mal-was-noch-Besondereres-Kammerorchester, die sehr jung sind und deutlich anders ticken als manche Beamtenkünstler-Kollektive.

Aurora Orchestra spielt Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ auswendig

Für das coronabedingt verspätete Debüt im Großen Saal der Elbphilharmonie hatten sich die Auroras ein „très french“ Programm zurechtgelegt, mit Berlioz‘ „Symphonie fantastique“, eine an sich schon große Nummer, als Abschluss. Komplett auswendig gespielt, macht das Ganze natürlich noch viel mehr her als im Normalzustand. Weil sich niemand mehr an seinen Noten festhalten kann. Weil alle sich blind aufeinander verlassen, einen Puls haben und noch enger als sonst miteinander formationsfliegen müssen.

Drahtseilakt also, ganz weit oben, auf einem wirklich sehr dünnen Drahtseil. Ging selbst da noch was? Aber sicher. Für die schwungvoll walzernde „Ballszene“ im zweiten Satz wurden die beiden Harfen ganz vorn am Bühnenrand postiert, in der „Szene auf dem Land“ das Saal-Licht fast gelöscht, Solo-Oboe und Solo-Englischhorn spielten ihre Dialoge in Scheinwerfer-Lichtkegeln, die Auroras knipsten Instrumenten-Gruppe für -Gruppe Leuchtarmbänder an, um damit ein verträumtes Glühwürmchen-Ballett zu simulieren.

Beim „Gang zum Richtplatz“ durften die vier Fagotte nach vorn zu den Streichern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Und als besagte extra spezielle Zugabe – perfekt auf den Klang-Begegnungsraum Elbphilharmonie abgestimmt und derart radikal nirgendwo sonst machbar – verteilte sich die Orchester-Belegschaft in allen Rängen des Saals. Um dort, weil es ihnen miteinander auf einer Bühne noch nicht risikofroh genug war, das rauschhaft tobende Finale des finalen Hexensabbats in einer riesigen Surround-Version zu spielen. Mit der wilden Fuge, mitsamt allem Dauer-Feuerwerk an irrwitzigen Ideen, die Berlioz dort loslässt. So schnell wird so etwas Verrücktes selbst in diesem Saal nicht wieder passieren.

Tolle Solo-Leistungen, wohin man hörte

Natürlich gab es dafür diesen unverstolpert gelungenen Synchron-Auftritt vom Feinsten noch mehr Beifall als schon für das Hauptprogramm. Natürlich war das auch ein kleines bisschen Angeberei; Fahrradfahren ohne Hände am Lenker macht immer mehr Spaß als mit, weil man nie davor sicher ist, sich deswegen im nächsten Moment an der Bürgersteig-Kante von einem Schneidezahn zu verabschieden. Aber egal: Die 1a-Show rechtfertigte diese Mittel.

Ob mit Noten aus Collons Sicht auf Berlioz eine noch extravaganter funkelnde Interpretation geworden wäre? Man weiß es nicht. Was an Stilkunde und Detail-Tiefenschärfe fehlte, um dramatisch wild aufgeheizt in die Nähe von Berlioz-Revolutionsnachfahren wie Gardiner oder Davis zu kommen, machte das intensive Miteinander der Auroras aber spielend wieder wett. Tolle Solo-Leistungen, wohin man hörte, viel Vergnügen an klugem, nicht unnötig abgeflachtem Entertainment.

Alexandre Tharaud als Solist garantierte schnittige Brillanz

„Showtime!“, mit großem Ausrufezeichen, war auch für das vorangegangene Ravel-Klavierkonzert die Devise. Alexandre Tharaud als Solist garantierte schnittige Brillanz, das Tutti hielt sich entfernt von dickem Farbauftrag und gefühliger Tristesse.

Klarheit und Drive, darum ging es allen, scharfe, prägnante Akzente, besonders im letzten Satz, betonten die elegant inszenierte Modernität. Im melancholisch vernebelten Mittelsatz allerdings wäre etwas mehr Träumerei und Klangversenkung noch schöner und angemessener gewesen.

Die gab es, kammermusikalisch fein dosiert, im Auftakt mit den „Three Studies from Couperin“: Thomas Adès‘ Neudeutung von reizenden Stückchen, die Couperins Klasse als Barock-Miniaturenkünstler respektvoll ins 21. Jahrhundert modernisierte. Musik wie „Malen nach Zahlen“: Alle Konturen waren vorgegeben, das Ausmalen und Neu-Schattieren aber, behutsam ausgeführt, sorgte im Kleinen für ganz andere Perspektiven, ebenso wie das gesamte Konzert in seinem größeren Rahmen.