Hamburg. Die Wiederaufnahme „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ an der Staatsoper ist ein Erlebnis in einer schon jetzt historischen Saison.

Man hätte einen leichtgängigen Auftakt wählen können, vielleicht ein hübsches Märchen mit beschwingten Gruppentableaus. Aber John Neumeier hat sich anders entschieden. Zur Eröffnung seiner 50. Saison und zugleich seiner letzten Spielzeit als Direktor des Hamburg Balletts hat er die Wiederaufnahme einer Choreografie gewählt, die nicht zu seinen Handlungsballetten zählt, aber gleichwohl weltweit die meistgespielte Neumeier-Kreation darstellt: „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“.

Das Ballett erlebte 1975 seine Uraufführung und war Neumeiers erstes abendfüllendes sinfonisches Ballett. In der 1896 fertiggestellten Komposition wollte Gustav Mahler der Natur eine Stimme geben und Geheimes offenbaren, das einem wie ein Traum erscheine. John Neumeier kreiert daraus Tanzkunst in seiner reinsten Form, auf leerer Bühne, in schlichten, fast gymnastisch anmutenden Kostümen, nur das Licht wechselt ein paar Mal von Blau zu Weiß und zurück – all das verantwortet er hier natürlich ebenfalls.

John Neumeier lässt seine Tänzer glänzen

Im Grunde ist die Wiederaufnahme eine Liebeserklärung an seine Compagnie zu Beginn dieser besonderen Spielzeit, bei der fast alle Tänzerinnen und Tänzer ihr technisches Können, vor allem aber ihren einzigartigen Ausdruck präsentieren können. Der Abend folgt keiner Erzählung, keinem linearen Geschehen, sondern collagiert eine Reihe von Bildern, die puren Tanz in atemberaubender Schönheit liefern – und damit auch eine wohltuende Deutungsfreiheit ermöglichen.

Die Fanfare in d-Moll ertönt, begleitet von satten Paukenschlägen. Edvin Revazov schält sich mit weiteren Tänzern aus einer Männergruppe. Wie eine Truppe auf Kampfmission mutet sie an. Zu Marschrhythmen und Trompeten flexen Füße, Hände prallen auf Oberschenkel, Fäuste schließen sich.

Welche Innigkeit des Ausdrucks

Dabei zeigen die Tänzer in engen, ineinander verschränkten Hebe-Figuren äußerste Anspannung. Jacopo Bellussi, Christopher Evans, Alessandro Frola und Félix Paquet geben eindringliche Beispiele ihres Könnens in diesem reinen Männer-Tanz, der von Kampfgeist zeugt, in dessen Subtext aber auch eine feine Sinnlichkeit mitschwingt. Wie Vögel mit ausgebreiteten Fängen springen die Tänzer, stapeln sich zu einer himmelwärts strebenden Turm-Skulptur, falten sich gleich einem Fächer auseinander. Der biegsame Karen Azatyan liefert zudem ein furioses Solo ab.

Revazov bewegt seine hohe, kraftvolle Gestalt, nur mit hautfarbenen Leggins bekleidet, mit großer Anmut durch den Reigen der Bilder. Bald liegt er, offenbar träumend, während im zweiten Satz „Sommer“ nach der Düsternis ein wenig Leichtigkeit einzieht. Als wäre Dionysos, der Veränderer und Zerstörer, von Apoll abgelöst, dem Gott der Künste und des Lichts. Schwebend erscheinen ihm Paare: die zarte Ida Praetorius mit dem sprungstarken Christopher Evans und die fröhliche Madoka Sugai an der Seite von Alessandro Frola. Innigkeit des Ausdrucks, Reinheit der Harmonie.

Ein Part ragt heraus

Wunderschöne Dreh- und Hebefiguren. Es gibt technisch höchst anspruchsvolle, symmetrische Szenen des Corps de Ballet. Damit geht es im „Herbst“ weiter, nur dass die Herren nun Braun und die Damen Rot tragen. Hier allerdings kündigt sich die Melodie des Todes bereits an.

Im vierten Satz, „Nacht“, erzählen Anna Laudere, Jacopo Bellussi und Edvin Revazov in einem eindringlichen Pas de Trois von gegenseitigem Halten und Tragen im Angesicht von Endlichkeit. Vor allem Laudere kann hier ihr expressives, dramatisches Können entfalten. Dieser Part ragt auch schon deshalb heraus, weil hier minutenlang keine Musik erklingt. Nichts als hochkonzentrierte Stille.

Olga Smirnova füllt die Bühne aus

Erst im fünften, „Engel“ betitelten Satz, betritt Olga Smirnova die Bühne und füllt sie doch mit ihrer einzigartigen Präsenz sogleich aus. Die ehemalige Bolschoi-Primaballerina dominiert in einem atemberaubenden Solo die leere Bühne. Mit fluiden Bewegungen, äußerster Anmut und höchstem Ausdruck zieht sie das Publikum mit jeder noch so minimalen Bewegung in den Bann. Überzeugend verkörpert sie einen selbst bestimmten Engel, der hier koboldhaft leise trippelt, dann wieder den Körper wellenförmig verbiegt.

Im sechsten Satz schließlich, „Was mir die Liebe erzählt“, ergreift sie die Hand des am Boden ruhenden Edvin Revazov beide tanzen einen Pas de Deux, der an Intensität des Gefühlsausdrucks kaum zu überbieten ist. Revazov hebt und senkt Smirnova ein ums andere Mal, diese mitreißend schwebende Königin des Balletts. Selten hat man so schön ineinander verschlungene Liebende auf der Bühne gesehen.

John Neumeier: Ein historischer Saisonauftakt

Mit sicherer Hand leitet Markus Lehtinen das Philharmonische Staatsorchester durch die Partitur, die technisch höchst anspruchsvoll zu tanzen ist. Hinzu kommen, räumlich separiert, der Damenchor der Hamburgischen Staatsoper und der Hamburger Knabenchor. Nur Mezzosopranistin Katja Pieweck singt aus dem Orchestergraben.

Die Wiederaufnahme von „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ schafft einzigartige, wahrhaftige Momente für die Ewigkeit und offenbart die Magie des Balletts in aller Reinheit und Abstraktionskunst. Zeitlos, und dabei mit seiner Thematik von Krieg und Frieden, Liebe und Tod auch die Gegenwart exakt beschreibend – ein gelungener Auftakt zu einer historischen Saison.

„Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ weitere Vorstellungen 20., 23., 25.9., jew. 19.30 Uhr, Karten unter T. 35 68 68; www.hamburgballett.de